Befreiung - Von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten einer umfassenden Umkehr. Timon Krause
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Dieses von Menschenrechtsorganisationen zu Recht als „historisch“ gefeierte Urteil ist bislang allerdings kaum mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Urvölker Amerikas sehen sich nach Jahrhunderten kolonialer Unterdrückung auch nach der formalen Unabhängigkeit ihrer Nationen fortlaufender Ausbeutung und Diskriminierung ausgesetzt. Wer sich in diesen Ländern für die Rechte von Indigenen einsetzt, wer sich den rücksichtslosen Interessen von Großkonzernen mit offenem Engagement für Umweltschutz in den Weg stellt, aber auch wer offen für Arbeitnehmerrechte eintritt, muss um sein Leben fürchten. Fast täglich werden in Südamerika Aktivistinnen und Aktivisten für ihren Einsatz umgebracht. Auch kritische Medienschaffende leben südlich des wohlhabenden amerikanischen Nordens gefährlich. Es ist eine Liste des Grauens ohne Anfang und Ende. Die Weltöffentlichkeit bekommt davon nichts mit; für unsere Medien sind diese traurigen Alltagsereignisse, diese Kollateralschäden der Globalisierung scheinbar ohne Relevanz. Hier nur exemplarisch einige Zahlen: Allein in Brasilien gab es 2016 und 2017 (noch vor Jair Bolsonaros Präsidentschaft) weit mehr als tausend gewaltsame Angriffe auf Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten, bei denen mindestens 375 Menschen zumeist gezielt getötet wurden. Paramilitärische Gruppierungen morden gezielt und möglichst grausam in ländlichen Gegenden Kolumbiens; seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen Regierung und FARC im Jahr 2016 wurden dort bis heute über 700 soziale Aktivisten ermordet – mehr als 200 davon waren Mitglieder des landesweiten gemeinnützigen Bündnisses für Entwicklung und Frieden. Aber auch in Südostasien, beispielsweise auf den Philippinen, leben Sozial- und Umweltaktivisten gefährlich: Das gesellschaftliche Klima hat sich seit der Wahl von Präsident Duterte gegenüber Menschenrechtlern, Journalisten und anderen Vertretern benachteiligter Gruppen massiv verschlechtert. 2017 wurden in dem Inselstaat allein 30 Landrechtsaktivisten umgebracht.
Willkürlich lassen sich aus dieser Liste der aus unserer Sicht Namen- und Gesichtslosen zahllose Fälle herauspicken:
Am 2. März 2016 wird die honduranische Menschenrechtsaktivistin Berta Cáceres Opfer eines Attentats. Am 14. März 2018 werden die brasilianische Stadträtin Marielle Franco und ihr Fahrer in ihrem Auto erschossen; Franco war Mitglied der sozialistischen Partei sowie des Frauenausschusses des Stadtparlamentes in Rio de Janeiro. Am 3. Oktober 2018 wird der Präsident einer Fischergewerkschaft aus Chile ermordet aufgefunden, nachdem er tags zuvor an einer Demonstration anlässlich der Umweltkatastrophe von Quintero-Puchuncavi und der andauernden Passivität der Behörden teilnahm. Anfang November 2018 werden Luis Fajardo und Javier Aldana, Mitglieder der kommunistischen Partei Venezuelas und Aktivisten zur Verteidigung von Bauernrechten, auf dem Heimweg von einer Veranstaltung ihrer Partei erschossen. In den indigenen Gebieten Kolumbiens nimmt die Zahl an Morden an Lehrkräften stark zu, unter anderem wird Javier Fernandez, Lehrer und Mitglied einer Lehrergewerkschaft, am helllichten Tage ermordet. Mitte November 2018 schießen Spezialkräfte der Militärpolizei dem Enkel eines Anführers der chilenischen Mapuche-Gemeinde Temucuicu von hinten in den Kopf. Anfang Dezember desselben Jahres werden die unabhängigen mexikanischen Journalisten Alejandro Márquez und Diego Corona ermordet aufgefunden. Kurz vor Weihnachten wird Gilson Tampone, Präsident des brasilianischen Bauernverbandes und Mitglied der Landlosenbewegung, an seiner Haustüre erschossen. Seit dem Jahreswechsel 2018/19 wurden folgende Politiker der linken mexikanischen Regierungspartei Morena Opfer von Attentaten: der frisch vereidigte Bürgermeister Tlaxiacos, Alejandro Aparicio, der Friedensrichter Hernández Gutiérrez und der schwer sehbehinderte Morena-Aktivist Pedro Lucero. In den ersten Tagen des Jahres 2019 wurde in Kolumbien alle 48 Stunden ein Sozialaktivist getötet, so die Kommunalratsmitglieder Gilberto Valencia, Jesús Perafán, José González und Miguel Gutiérrez sowie die Gewerkschaftsmitglieder Wilmer Miranda und Wilson Pérez, außerdem die Sprecherin des Opferverbandes Santa Marta, Marizta Quiroz. Im März 2019 wird in Costa Rica Sergio Rojas umgebracht, der sich in seiner Gemeinde für die Durchsetzung indigener Rechte einsetzte. Am 2. Mai wird im südmexikanischen Oaxaca Telésforo Enríquez, Grundschullehrer und Betreiber eines lokalen Radiosenders, erschossen – Enríquez war ein Förderer indigener Sprachen und informierte in seiner Sendung über die zapotekische Gemeinde vor Ort (der zapatistische Widerstand kommt in einem späteren Kapitel noch ausführlich zur Sprache).6
Diese Liste lässt sich endlos fortsetzen. Sie dokumentiert die massive Bedrohungslage für Vertreter und Unterstützerinnen von Minderheiten und Marginalisierten: In den meisten südamerikanischen Staaten ist der Einsatz für Recht, Gerechtigkeit und Umweltschutz lebensgefährlich. Die über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen der Rechtlosigkeit, mafiöse Verbindungen von Politik und Großkapital und die de facto historische Machtlosigkeit der diskriminierten Bevölkerungsgruppen haben dazu geführt, dass die Täter mit Straffreiheit rechnen können, da die Rechtssysteme im Zweifelsfall auf der Seite der Mächtigen stehen. Rechtsaußenregierungen wie aktuell in Chile, Brasilien oder Kolumbien setzen den diskriminierten Arbeitnehmervertretern, Landlosen und Indigenen außerdem beharrlich zu und sagen ihnen als „wirtschaftsfeindlichen Elementen“ offen den Kampf an – im Hintergrund verbandelt mit den Interessen übermächtiger, zumeist ausländischer Großkonzerne, die ohne Rücksicht auf Menschenrechte die rohstoffreichen Länder des Südens auszubeuten versuchen.
Doch es regt sich Hoffnung! Nicht nur die Mapuche-Gemeinde in Südargentinien hat erstmals vor Gericht Recht zugesprochen bekommen. Gelegentlich widersetzt sich die Justiz dem verbreiteten politischen Klima und verkündet Urteile, in denen die Verantwortung von Politikern und Großkonzernen hervorgehoben wird und diese zu Strafen und Reparationen verurteilt werden, und welche die Lokalbevölkerungen vor den Folgen rücksichtloser Investments schützen: Seit Mitte April 2019 wird im Fall des Wasserkraftwerkes „Agua Zarca“ in Honduras 16 Angeklagten wegen betrügerischer Machenschaften der Prozess gemacht; einer der Angeklagten sitzt bereits wegen Mordvorwürfen im Fall Berta Cáceres in U-Haft. Die Ermittlungen um Dokumentenfälschung bei der Konzessionierung und Genehmigung des Kraftwerksprojektes gehen auf über 30 Anzeigen zurück, die Berta Cacéres zu Lebzeiten als Generalkoordinatorin der Indigenenorganisation Copinh gestellt hatte. Im März gibt ein US-Berufungsgericht der Klage der peruanischen Kleinbäuerin Máxima Axuna und ihrer Familie gegen die Newmont Mining Company statt; der US-Konzern betreibt in Peru das Goldbergwerk Yanacocha, das vor Ort für massive Umweltzerstörung und Gesundheitsschäden der Lokalbevölkerung verantwortlich gemacht wird. Am 4. März entscheidet ein Gericht in Tocoa, Honduras, auf Freispruch für zwölf Umweltaktivistinnen und -aktivisten, die sich seit langem mit zivilem Widerstand gegen den unkontrollierten, zerstörerischen Bergbau in ihrer Region eingesetzt hatten. Im Dezember 2018 verurteilt ein Gericht in Brasilien den Schweizer Konzern Syngenta wegen Mordes und versuchten Mordes an Landlosenaktivisten. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass Syngenta als Auftraggeber für einen tödlichen Überfall durch seinen damaligen Sicherheitsdienst verantwortlich war. Im Jahr 2017 sorgt die Klage des peruanischen Landwirtes Saúl Luciano Lliuya gegen den Energieriesen RWE in Deutschland für Aufsehen: Das