Im Strom. Hans Garbaden

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Im Strom - Hans Garbaden

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versorgt worden war, konnte Vater Holzmann mit einem großen Pflaster auf dem Rücken und einem russischen Granatsplitter in der Geldbörse wieder nach Haus fahren.

      Zu Hause zeigte das Familienoberhaupt seiner Frau, Renate und Heinz sein Andenken aus dem Krieg erzählte die ganze Geschichte. Den Splitter hatte er sich in Russland eingefangen. Er kämpfte als Infanterist an vorderster Front, als sowjetische Panzer auftauchten und das Feuer eröffneten. Karl Holzmann lief neben einem Kameraden, dem von einer Granate der Kopf abgerissen wurde. Einige Splitter trafen ihn. Er stürzte, vom Blut des Kameraden übersudelt, in ein vor ihm auftauchendes Erdloch. Sein erster Gedanke war, dass jetzt alles vorbei sei. Nach einigen Minuten, als er sich die Gehirnmasse des toten Kameraden aus dem Gesicht gewischt hatte, erkannte er: „Mensch, ich lebe ja.“

      In einem Feldlazarett wurden die Splitter bis auf einen herausoperiert. Bei dem verbliebenen Splitter war den Ärzten das Risiko zu groß, weil er unmittelbar neben der Wirbelsäule lag. Jetzt war der Splitter gewandert, und das Problem hatte sich erledigt.

      Das war die einzige Kriegserinnerung, die Karl Holzmann seiner Familie erzählte. Er zeigte Verständnis für die Russen, denn er beendete seinen Bericht mit den Worten: „Was wollten wir dort? Wir waren doch gar nicht eingeladen!“

      Ende des Jahres bekam die Freundschaft zwischen Heinz Bendowski und Michael Sonnenberg die ersten Risse, als Heinz merkte, dass sein Freund es nicht akzeptieren konnte, dass zwischen Renate und ihm inzwischen aus Freundschaft Liebe geworden war. Von Renates Seite aus blieb die Freundschaft zu Michael unberührt.

       1961

      Tobias Döllmann, der Linksaußen des Wilhelmsburger SV, hatte für die Freunde eine Brauereibesichtigung organisiert. Tobias war Sohn einer der letzten Bauern in Wilhelmsburg. Da sein älterer Bruder als Erbfolger den elterlichen Hof übernehmen würde, hatte er sich bei der Holsten-Brauerei als Bierkutscher verdingt.

      Die Einladung galt auch den Frauen und Freundinnen der Spieler. An einem späten Nachmittag fanden sich die Teilnehmer auf dem Hof der Brauerei ein. Neben sieben anderen jungen Frauen war Renate zusammen mit Heinz und Michael gekommen.

      Nach der Begrüßung durch einen Braumeister traf etwas abgehetzt der lange Andreas, linker Verteidiger und Kapitän der Mannschaft, ein. Etwas derangiert meinte er: „Ich hatte heute Probleme mit der Polizei.“

      Alle Mannschaftskameraden schauten ihn fragend an. Der lange Andreas war Kunststudent, hatte kein Stipendium und konnte von seinen mittellosen Eltern finanziell kaum unterstützt werden. Er verdiente seinen Lebensunterhalt als Pflastermaler in den Einkaufsstraßen der Hamburger Innenstadt. Ein Kleid in der Auslage eines führenden Modehauses am Neuen Wall kostete mehr, als ein Kunststudent auf dem Pflaster davor für die Kopie von Franz Marcs „Blauen Pferden“ im Monat an Spenden bekam. Aber nach Abzug seiner Kosten für Kreide blieb noch etwas für ein bescheidenes Leben übrig. Andreas hatte seinen Sportkameraden erzählt, dass Gauguin, Manet und viele andere Maler auf den Straßen von Montmartre angefangen hatten, weil das Geld nicht mehr für Leinwand und Farbe reichte und sie hofften, auf diese Art und Weise Gönner zu finden.

      Die Brauerei hatte noch achtzehn Pferde im Stall, mit denen die Gastronomiekunden „rund um den Schornstein“ beliefert wurden. Außerdem wurden einige dieser Pferde vom Stallmeister trainiert, um als Vierer-Gespann bei festlichen Anlässen als Werbebotschafter für die Brauerei eingesetzt zu werden.

      In ihrem leicht angetrunkenem Zustand fingen einige Fußballfreunde an zu johlen und unterstellten Wiebke, sich mal einen Pferdepenis ansehen zu wollen. Die Männer zeigten Wiebke die Größe eines erigierten Hengstpenis mit zwei ausgestreckten Armen und animierten sie, in den Stall zu gehen, um sich mit der Anatomie der Pferde vertraut zu machen. Wiebke war begeistert. Tobias Döllmann begleitete sie. Nach einer Viertelstunde kamen sie zurück. Wiebke humpelte, und ihr Rock war zerrissen. Sie hatte keinen Pferdepenis gesehen. Aber sie hätte beim Hinschauen von einem Pferd einen kräftigen Huftritt an den Oberschenkel bekommen. Was ihr nicht erzählt worden war, war die Tatsache, dass nur Stuten im Brauereistall standen. Wiebke raffte ihren Rock und zeigte allen ein paar schöne Blutergüsse. Es wurde noch ein langer Abend, der im Vereinsheim des Wilhelmsburger SV ausklang.

      Heinz, Michael und Renate verbrachten, trotz leichter Dissonanzen, weiter gemeinsam ihre Freizeit. Als im April auf St. Pauli eine neue Band aus Liverpool spielte, erlebten sie im Top Ten Club den Beginn der großartigen Karriere der Beatles.

      Im Mai war Michael durch eine bevorstehende Klausur, auf die er sich noch vorbereiten musste, an einem Treffen verhindert. Renate und Heinz waren, wie sie einander gestanden, nicht unerfreut über die Absage. Sie entschlossen sich, in die River-Kasematten zu gehen. Heinz war Jazzfan und hatte Renate mit seiner Begeisterung für diese Musik angesteckt. Auch das war dem eifersüchtigen Michael ein Dorn im Auge. Ihm, der immer elegant angezogen war und die kurzen Haare wie mit der Axt gescheitelt trug, waren die leger gekleideten und unfrisierten Jazzer suspekt gewesen.

      Heinz hatte die Freunde mehrfach darauf angesprochen, doch mal nach Berlin in die Eierschale am Breitenbachplatz, zu H. W. Schneider mit den Spree City Stompers, ins Riverboat am Fehrbelliner Platz oder ins Hajo am Nollendorfplatz, in der die Creme der Jazzmusiker spielte, zu fahren. Aber Michael wollte mit diesen Sartre und Camus lesenden Pseudoexistenzialisten nichts zu tun haben. Und neben dem Jazz womöglich auch noch die Chansons von Juliette Greco anzuhören, war auch nicht seine Welt. Francoise Sagan wollte er als Lesestoff noch gelten lassen, aber in diese Jazzkeller, die dunklen Höhlen glichen, wollte er keinen Fuß setzen.

      Renate und Heinz fuhren mit der S-Bahn von Wilhelmsburg nach St. Pauli. In den River-Kasematten gastierte Ken Colyer mit seiner Band aus England. Sie fanden noch Plätze in einer Nische. Nachdem sie ihre Getränke – Renate eine Bluna und Heinz ein Elbschlossbier – erhalten hatten, sprachen sie über Michael.

      „Was sagst du eigentlich dazu, dass er dich neuerdings immer mit Heini anspricht und sich selbst Mike nennt?“ fragte Renate. „Auch wenn er mit anderen über uns spricht, bist du für ihn nur der Heini.“

      „Mich stört das nicht; soll er mich doch so nennen, und ich spreche ihn gern mit Mike an, wenn er das möchte.“

      Nachdem Renate einen Schluck getrunken hatte, meinte sie: „Ich finde, dass er sich immer mehr verändert. Und nicht zum Guten. Den Michael vom vorigen Sommer erkenne ich nicht mehr in ihm.“

      Heinz gab ihr recht. „Unsere Interessen driften eben immer mehr auseinander. Das wurde doch auch deutlich, als wir in die Jazz at the Philharmonic-Veranstaltung in die Musikhalle wollten. Er hatte doch keine Lust und wollte sich lieber Bill Haley and the Comets in der Ernst-Merck-Halle ansehen.“

      „Und mit Filmen ist es doch ähnlich. Als wir uns den Henry-Fonda-Film ‚Die zwölf Geschworenen‘ ansehen wollten, ist er doch auch nicht mitgekommen, sondern hat sich lieber den neuen Tarzan-Film mit Gordon Scott angesehen. Mit Gordon Scott! Wenn es wenigstens Jonny Weismuller gewesen wäre. Und dann auch noch im Rialto-Kino am Vogelhüttendeich. Oder wie Michael immer sagt, am Vögelnuttendeich, wo sich in der Dämmerung immer die Rocker versammeln.“

      Ken Colyer hatte inzwischen eine Story von seiner Fahrt auf einem Frachter nach New Orleans und seinen Erlebnissen an der Wiege des Jazz berichtet und setzte die Trompete für den Basin Street Blues an. Renate und Heinz küssten sich.

      Nachdem sie ein paarmal getanzt hatten und als Ken Colyer den ‚Chattanooga Stomp‘ von King Oliver blies, sprach Heinz von Verlobung.

      „Meinst du das ernst?“ fragte Renate.

      Er lächelte. „Ich habe doch bisher nur zwei Bier getrunken, bin also nüchtern. Ich möchte, dass du meine

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