100 Prozent Anders. Tanja Mai
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Oh Mann, war das Zufall, oder sollte er tatsächlich so viel Menschenkenntnis besitzen, dass er wusste, wie man mich an meiner empfindlichsten Stelle treffen konnte?
Der Freitag nahte, und meine Laune sank auf den Gefrierpunkt. Ich stand auf dem Fußballplatz und sollte dribbeln, Pässe spielen, Dehnübungen und Sprint-Stopps machen. Hallo, ging’s noch? Ich war Sänger. Ich war schon fast 200 Mal auf der Bühne gestanden, sang das Repertoire der weltgrößten Künstler nach und hier, auf diesem piefigen Sportplatz, sollte ich Fußball spielen? Meine Entscheidung stand fest, und zu mir selbst sagte ich: „Sorry, Herr Harder, auch auf die Gefahr hin, dass ihr Blutdruck durch die Decke schießt: Heute habe ich meine letzte Vorstellung auf diesem Fußballplatz gegeben.“
Das Argument, das ich mir bei möglicher Kritik von Lehrerseite an meinem Verhalten in Gedanken schon zurechtgelegt hatte, lief darauf hinaus, dass jeder außer mir die Chance gehabt hatte, seinen Sportkurs frei zu wählen. Nur mir war Fußball aufgezwungen worden. Das konnte nicht sein. Argumentativ fühlte ich mich völlig auf der sicheren Seite. Deshalb hatte ich auch kein schlechtes Gewissen – doch dazu später mehr.
Meine Eltern besaßen elf Jahre lang ein kleines Ausflugscafé im Ort vor der Burg Eltz. Ich liebe diese romantische, märchenhafte Burg bis heute. Immer in der Woche vor Ostern fand die große Eröffnung unseres „Café Weidung“ statt. So oft es ging, habe ich meiner Mutter dort geholfen. Am tollsten fand ich es immer, wenn der Laden proppenvoll war und richtig viel Hektik herrschte. Unser Café befand sich an der Durchgangsstraße zur Burg Eltz. Auf dem Weg nach oben hielten die Busfahrer bei uns an und reservierten für zwei Stunden später schon einmal Tische für ihre Reisegruppen. Das waren dann gerne um die 50 Personen auf einen Schlag, die innerhalb von fünf Minuten ihr Kännchen Kaffee und ihr Stück Schwarzwälder Kirschtorte serviert bekommen wollten. Ich habe dann serviert, meine Mutter stand an der Kuchentheke und kam aus dem Schneiden gar nicht mehr heraus. In der Küche hatten wir eine Aushilfe, die den Kaffee kochte und für das Geschirr zuständig war. Je voller, desto lieber war es mir. Im größten Trubel fing ich an zu singen, und so war jedes Mal eine Bombenstimmung bei uns im Café.
Auf der Kuchentheke hatte meine Mutter immer frische Blumen stehen. Daneben dekorierte sie eine meiner Singles, die ich neu produziert hatte. Die war nie zum Verkaufen gedacht, sondern einfach nur als Zeichen dafür, wie stolz meine Eltern auf mich waren. Eines Tages ging unsere Industriekaffeemaschine kaputt, die pro Stunde rund 400 Tassen Kaffee kochen konnte. Da so ein Teil locker 15 000 Mark kostet, konnten wir nicht mal schnell eine neue kaufen, sondern mussten einen Elektriker rufen, der sie reparieren sollte. Als der Mann fertig war, plauderte er noch ein wenig mit meiner Mutter. Als er meine Single entdeckte, erzählte er: „Ich mache auch Musik, habe eine eigene Band. Der Thomas Anders bewirbt sich ständig bei uns, doch wir wollen ihn nicht haben, weil er so schlecht ist und nicht singen kann. Ich habe auch gar keine Ahnung, wie der es überhaupt geschafft hat, eine eigene Single aufzunehmen.“ Meine Mutter schwieg. Erst als der Handwerker fragte: „Kennen Sie den Anders denn persönlich?“, antwortete meine Mutter mit eisigem Blick: „Ja, ich kenne ihn. Um es kurz zu machen: Er ist mein Sohn. Und eines gebe ich Ihnen noch mit auf den Weg – unsere Kaffeemaschine reparieren Sie ganz bestimmt nicht mehr. Auf Wiedersehen!“
In unserem Café hatten meine Eltern auch zwei Fremdenzimmer eingerichtet. Eines Tages kamen zwei Frauen zu meiner Mutter in den Laden, die eine war Anfang 30, die andere Ende 40, und fragten, ob sie ein Zimmer mieten könnten. Ich stand an dem Tag zufällig auch hinter der Theke. Meine Mutter sagte ja. Worauf eine der Frauen wissen wollte: „Ist das hier vorn der einzige Eingang?“ Meine Mutter: „Nein. Wir haben noch einen Hinterausgang.“ Die Frau: „Kann man die Rollläden im Zimmer so dicht schließen, dass kein Tageslicht ins Zimmer fällt?“ Meine Mutter: „Ich habe noch nie in unserem Gästezimmer geschlafen. Aber es sind ganz normale Rollläden.“ Die Frau: „Dürfen wir das vorher ausprobieren, bevor wir das Zimmer mieten?“ Meine Mutter: „Das können Sie gern tun.“ Dann wieder die Frau: „Ist das hier die Hauptstraße des Ortes? Wie weit ist es denn von hier bis zur Autobahn?“ Meine Mutter beantwortete sämtliche Fragen. Dann meinte die Frau, sie würden sich das mit dem Zimmer überlegen und sich wieder melden. Als sie weg waren, sagte meine Mutter zu mir: „Mit denen stimmt doch was nicht. Das sind sicher Terroristinnen.“ Ende der Siebzigerjahre war immerhin die Hoch-Zeit der RAF, und die Menschen waren sensibilisiert mit Blick auf verdächtige Personen. In sämtlichen öffentlichen Gebäuden hingen ja damals diese Fahndungsplakate. Wir dachten zwar, dass uns auf dem Lande nichts passieren könnte. Dennoch war meine Mutter sofort hellhörig geworden bei dem merkwürdigen Auftreten der Frauen. Sie rief die Polizei und erzählte von den beiden Frauen, die sich bei uns aber nie mehr blicken ließen. Monate später erfuhren wir, dass es tatsächlich gesuchte RAF-Mitglieder waren …
Wegen des großen Altersunterschiedes wurden mein Bruder, meine Schwester und ich quasi als Einzelkinder groß. Kaum war mein Bruder aus dem Gröbsten raus, kam ich. Als ich eingeschult wurde, kam meine Schwester zur Welt. Meine Mutter musste also jedes Mal wieder von vorn anfangen mit der Kindererziehung.
Bis heute verstehen wir drei Geschwister uns wunderbar. Auch wenn wir komplett verschiedene Charaktere sind. Kaum zu glauben, dass wir dieselben Eltern haben. Wir stehen uns zwar emotional total nahe, leben aber grundverschieden.
Mein Bruder Achim machte, wie mein Vater, Karriere beim Finanzamt. Er ist verheiratet mit Helga, hat zwei Söhne und baute in Mörz, ganz in der Nähe unserer Eltern, ein Haus. Sein älterer Sohn heißt Markus, und das Nesthäkchen, David, ist mein Patensohn. Während der „ersten Karriere“ von Modern Talking hatte ich manchmal ein schlechtes Gewissen Achim gegenüber. Ich dachte, wie sieht er mich? Als durchgeknallt? Als Show-Snob, der die Bodenhaftung verloren hat? Mein Leben bestand aus „heute hier und morgen da“. Eine Musikerexistenz zwischen Lear-Jet und 5-Sterne-Hotels, Gourmet-Futter und Designer-Klamotten.
Ich liebte und liebe meinen Bruder und wollte nie den Eindruck erwecken, dass ich etwas Besonderes sei. Ich weiß nicht mehr, wann es war, aber viele Jahre später, während meines USA-Aufenthaltes, rief ich ihn an, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Wir plauderten, und nach einer Weile fragte er mich: „ Wo bist du eigentlich?“ Ich sagte: „In Los Angeles.“ „Hey“, meinte er, „das Telefonat kostet ja ein Vermögen.“ „Ja, aber ich bin so viel unterwegs, da ist es egal, von wo aus ich anrufe, es ist dein Geburtstag“, erwiderte ich. „Weißt du“, fing er an, „nimm es mir nicht übel, aber nie in meinem Leben möchte ich mit dir tauschen. Immer unterwegs, ständig im Flugzeug, permanent ein neues Hotel. Ich bin froh, dass ich mein beschauliches Leben habe.“
Was für eine Aussage! Und was für ein Befreiungsschlag. Ich war baff. Achim hatte mir gezeigt, dass ich zwar meinen Traum lebe, aber dass mein Traum für andere weiß Gott kein Traum sein muss. Mir wurde klar, dass nicht ich mit meinem bekloppten Beruf das Zentralgestirn im Universum bin. Nein. Jeder Mensch findet sein Glück auf seine Weise.
Meine Schwester Tanja wiederum lebt eine Mischung aus Achims und meinem Leben. Sie arbeitet heute als Grafikdesignerin in München, wohnt dort mit ihrem Mann Fritz, ihrer dreijährigen Tochter Coco-Jolie und ihrem Sohn Laurien, der im Februar 2011 das Licht der Welt erblickte. Tanja und ich standen uns von Anfang an besonders nah. Ich wollte ja immer eine Schwester – Sie erinnern sich an die Sache mit dem Zucker und dem Storch? –, und der Altersunterschied zwischen uns beträgt „nur“ sieben Jahre. Zwischen Tanja und Achim liegen dreizehn Jahre, was beinahe schon eine andere Generation