100 Prozent Anders. Tanja Mai

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100 Prozent Anders - Tanja Mai

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„Ach, Herr Hommen, ja danke, uns geht es gut.“ – „Frau Weidung, ich wollte Ihnen ein paar Termine für Ihren Sohn durchgeben.“ – „Kein Problem, schießen Sie los.“ – „Nein, holen Sie sich besser einen Stift und ein Blatt Papier.“ – „Ach was, die paar Termine kann ich mir schon merken.“ – „Nein, Frau Weidung, es sind ein paar mehr. Genauer gesagt, fünfzehn Termine für die nächsten sechs Wochen.“ Damit hatten weder meine Eltern noch ich gerechnet. Fünfzehn Termine in sechs Wochen! Das hieß, ich durfte endlich zurück auf meine geliebte Bühne – und ich malte mir schon die Höhe meines fürstlichen Taschengeldes aus.

      In den kommenden drei Jahren hatte ich im Tanzpalast dann etwa 150 Auftritte. Dort lernte ich auch Kurt Adolf Thelen alias „Der singende Kellermeister“ kennen. Er trat dort regelmäßig auf und sang diese typischen Schunkellieder, „Schütt’ die Sorgen in ein Gläschen Wein“ oder „Oh Mosella“ und solche Sachen. Ende der Siebzigerjahre waren das richtige Stimmungslieder. Der Kurt fand mich so klasse, dass er unbedingt ein Album mit mir aufnehmen wollte. Ich war neun Jahre alt und fand das natürlich wahnsinnig spannend. Ich sang mal wieder eine Auswahl von Heintje-Titeln, aber auch neu komponierte Lieder. Produziert wurde das Album von Hellmuth Rüssmann, dem musikalischen Ziehvater von Schlagerstar Wolfgang Petry. Das Ergebnis war richtig gut. Doch leider lehnten alle Plattenfirmen eine Veröffentlichung ab, weil sie in der Nach-Ära von Heintje erst einmal die Schnauze voll hatten von niedlichen Kinderstars. Das Projekt war damit gestorben, und ich habe nie wieder etwas von meiner ersten Schallplatte gehört.

      ***

      1976 gab es beim Südwestfunk-Radio einen Wettbewerb, bei dem man als nichtprofessioneller Musiker eine Kassette mit selbst gesungenen Titeln einreichen konnte. Jeden Samstag wurde dann ein Wochensieger gekürt, dann der Monatssieger, der Halbjahressieger und der Jahressieger. Ich hatte in allen Kategorien gewonnen, dennoch verlief eine mögliche Karriere im Sande, da ich noch zu jung war. Der zuständige Herr beim Radio teilte mir mit, dass sich meine Stimme erst noch festigen müsse. Ich sei einfach noch zu jung. Einen dreizehnjährigen Sänger konnte man damals nicht erfolgreich vermarkten. Da laufen die Uhren heute ganz anders, je jünger, desto besser. Doch ich gab nicht auf und konzentrierte mich weiterhin auf mein Hauptziel, meine Musik. Im Deutschunterricht wurden wir einmal von unserem Lehrer gefragt, was wir später beruflich machen wollten. Voller Überzeugung erklärte ich ihm, dass ich Sänger werden würde. Ein Klassenkamerad, den ich ohnehin nicht besonders gut leiden konnte, kam nach der Stunde zu mir und meinte: „Du redest so einen Müll, und bist so was von bescheuert! Sänger ist doch kein Beruf, den man einfach so wählen kann. Dafür muss man richtig gut sein.“

      Ich ließ den Idioten einfach stehen, was wusste der schon. Ein paar Wochen später hörte mich derselbe Junge bei einer Chorveranstaltung in der Schule. Ich hatte einen Solopart, der beim Publikum großartig ankam. Als die Vorstellung vorbei war, kam der Junge zu mir und entschuldigte sich bei mir, weil er mich ausgelacht hatte, und meinte: „Aus dir wird tausendprozentig mal ein richtiger Star.“

      Damals machte mich die Musik des amerikanischen Sängers Barry Manilow tierisch an. 1974 landete er mit „Mandy“ einen Welthit. So etwas hatte ich vorher noch nicht gehört. Anfang der Siebzigerjahre spielte man in Deutschland „Schöne Maid“ von Tony Marshall und „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ von Jürgen Marcus. Plötzlich schwappten diese leicht angejazzten Akkorde aus Amerika zu uns herüber. Auch die Karriere von ABBA begann damals. Aber der Sound von Manilow war etwas ganz Besonderes für mich. Für mein musikbegeistertes deutsches Ohr verkörperten seine Songs eine unglaubliche Internationalität, obwohl er in seiner Heimat eher als Schnulzenheini galt. Auch der Hit „Chirpy Chirpy Cheep Cheep“ von Middle of the Road gefiel mir. Diese Sounds läuteten langsam, aber sicher die Disko-Ära in Deutschland ein, und auch ich sang nicht mehr Heintje oder Mary Roos nach, sondern die englischen Songs.

      ***

      Durch meine vielen gut bezahlten Auftritte im Tanzpalast hatte ich schon als Schüler immer genügend Geld in der Tasche. Es kam immer wieder vor, wenn mal die letzte Stunde des Unterrichts ausfiel, dass ich nicht auf den Bus wartete, sondern mir ein Taxi bestellte, das mich die zwei Kilometer nach Hause brachte. Das kostete damals vier Mark. Um zehn nach zwölf stand ich bei meiner Mutter vor der Haustür. Sie bekam regelmäßig einen halben Herzinfarkt und schimpfte: „Bernd, das geht nicht. Du bist ein Kind. Kinder fahren nicht mit dem Taxi von der Schule nach Hause, sondern nehmen den Bus.“ Ich: „Aber Mama! Der Bus fährt erst in einer Stunde.“ – „Dann musst du die Stunde eben warten, so wie das alle Kinder tun.“ – „Dazu habe ich keine Lust.“ Das Argument, wer meine Taxifahrten bezahlen solle, zog bei mir nicht. Ich verdiente ja schließlich längst mit meiner Musik eigenes Geld. Also fuhr ich weiterhin Taxi.

      Ich liebte auch Lakritze. Ganz besonders Veilchenpastillen, die ja nun wirklich nicht jedermanns Geschmack sind. Ich ging in Münstermaifeld in einen kleinen Supermarkt und fragte also nach meinen Veilchenpastillen. Die Verkäuferin, die mich kannte, erklärte: „Bernd, die führen wir nicht mehr, weil wir zu wenig davon verkaufen. Ich muss immer einen ganzen Karton ordern, das lohnt sich nicht.“ „Aha, wie viele sind denn in so einem Karton“, fragte ich schon mit Hintergedanken. „36“, lautete die Antwort. „Tja, dann bestellen Sie bitte einen Karton für mich.“ Ich weiß nicht, was die Verkäuferin von mir dachte, aber zwei Tage später hatte ich meine 36 Beutel Veilchenpastillen.

      Nach meiner Grundschulzeit wechselte ich in Münstermaifeld auf das Kurfürstliche Balduin-Gymnasium.

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      Schule war für mich ein notwendiges Übel. Ein Schicksal, dem ich nicht entkommen konnte. Hätte es irgendeine Chance gegeben, diese Lebensphase zu überspringen, ich hätte sie sofort genutzt. Dementsprechend war ich nur ein mittelmäßiger Schüler. Es gab Fächer, die ich liebte, wie Deutsch, Geschichte, Erdkunde. Aber Mathe und Physik oder Chemie waren der Albtraum. Ich war viel mehr auf meinen Lifestyle bedacht. Gepflegtes Aussehen, schicke Kleidung und stilvolles Benehmen waren mir schon als Kind unheimlich wichtig. Das ist damals nicht anders als heute gewesen. Auch meine Abneigung gegen öffentliche Verkehrsmittel war bereits als Schüler voll ausgeprägt. Ich brauche Abstand zu fremden Menschen, mag keinen Körperkontakt. Ich kann schlecht ertragen, wie es im Bus oder in der U-Bahn riecht. Grundsätzlich mag ich den Duft von Menschen, die mir am Herzen liegen. Aber wenn sich die Gerüche von fremden Menschen auf engem Raum vermischen, dreht sich mir der Magen um. Wenn der Fahrer dann noch bremsen muss und so ein schwitzender Mensch auf mich drauf fällt, halte ich die Luft an.

      Das war auch der Grund, weswegen ich als Schüler an keiner Klassenfahrt teilgenommen habe. Nicht mal bei der Abi-Fahrt war ich dabei. Höchstens mal bei einem Tagesausflug. Ich habe auch noch nie in meinem Leben in einer Jugendherberge geschlafen.

      Bis heute bin ich nur ein einziges Mal U-Bahn gefahren. Das war mit Claudia vor 15 Jahren in London. Nach der Landung wollten wir uns in ein Taxi setzen, doch es herrschte totales Verkehrschaos, und wir hätten mindestens zwei, drei Stunden bis in die Innenstadt benötigt. Für Claudia gab es überhaupt keine Diskussion. Sie sagte: „Ich setze mich doch nicht stundenlang in eine Taxe. Wir fahren jetzt mit der U-Bahn. Punkt.“ Wir also mit unseren Koffern rein in die Underground – und ich hätte mich sofort übergeben können in dem schmutzigen, mit Menschen vollgestopften Waggon. Es war absolut nicht meine Welt! Ich nölte während der kompletten Fahrt bis in die City herum und gab Claudia ganz deutlich zu verstehen, dass ich das nie mehr machen würde, selbst ihr zuliebe nicht.

      Auch bei meiner Kleidung ließ ich schon als Junge nicht mit mir verhandeln. Mitte der Siebzigerjahre war bei meinen Freunden und mir die C&A-Jeansmarke „Palomino“ total angesagt. Ich wollte gar keine anderen Hosen mehr tragen und kaufte mir ständig Palomino-Jeans in allen erdenklichen Farben. War meine Mutter der Meinung, ich hätte genug anzuziehen und eine neue Hose sei jetzt nicht nötig, kaufte ich mir die Hose eben von meinem eigenen Geld.

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