Muss ich dir die Wahrheit sagen? Der dramatische Arztroman. Sandy Palmer
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„Für Sie, Herr Oberarzt“, meldete sie.
Dr. Munther war schon versucht, die Hand nach dem Hörer auszustrecken, da fiel ihm ein, dass er ja immer noch steril war. Würde er nach dem Hörer greifen, müsste er sich noch einmal der ausdauernden Waschung unterziehen.
„Halten Sie mir den Hörer ans Ohr, Schwester Erika“, bat er.
„Ja, hier Munther“, meldete er sich, nachdem die junge Pflegerin seiner Aufforderung nachgekommen war. „Ach, Sie sind es, Herr Professor“, rief er dann durch die Leitung. Während er auf das hörte, was ihm der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung mitzuteilen hatte, warf er seinem Assistenten einen vielsagenden Blick zu. „Ist gut, Herr Professor“, sprach er nach einer Weile in die Muschel, „wir werden es schon schaffen. Bis heute Nachmittag dann.“ Er trat drei Schritte zurück und wandte sich zu dem übrigen Operationsteam, während Schwester Erika den Hörer zurück auf die Gabel legte.
„Professor Gerstenbach ist zu einem Patienten gerufen worden, den er privat betreut“, erklärte der Oberarzt dann den übrigen Mitarbeitern. „Er bittet, dass wir die Operation an Direktor Kürschner ohne ihn vornehmen. Der Patient braucht es nicht unbedingt zu erfahren, dass er nicht vom Chef persönlich operiert worden ist – meint wenigstens der Chef.“
Die Ironie in den Worten des Oberarztes war nicht zu überhören, und die ansonsten stets sehr schweigsame Narkoseärztin meinte: „Brechen Sie nicht zu schnell den Stab über den Professor, Herr Kollege Munther. Wer weiß, vielleicht musste der Chef wirklich zu einem Patienten. Wir wissen doch alle, dass er eine große Praxis hat.“
So war es tatsächlich. Zwar hielt der Professor nur noch an drei Vormittagen der Woche Praxis in einem Zimmer der Klinik, doch stets war der Raum voll. Viele Patienten nahmen längere Wartezeiten in Kauf.
„Sie haben recht, Tatjana, ich sollte mit meinen Äußerungen ein wenig vorsichtiger sein. Reden wir nicht mehr darüber, fangen wir lieber an. Der Direktor schläft schon?“
Die Anästhesistin warf einen Blick auf den Patienten, der im Vorbereitungsraum auf einem Rollbett lag.
„Die vorbereitenden Injektionen wirken“, erklärte sie. „Aber Sie können sich schon auf den Eingriff vorbereiten, ich brauche nur noch fünf Minuten.“
Sie gab den Schwestern einen Wink, den Patienten in den OP zu rollen und ihn vorschriftsmäßig auf den OP-Tisch festzuschnallen, dann begann sie damit, die Narkose einzuleiten.
Vorsichtig führte sie einen Schlauch in die Luftröhre des Patienten ein, durch den sie das Lachgas-Äther-Gemisch leiten konnte.
Nach einer Weile, die Ärzte hatten sich inzwischen auf ihre Plätze am Operationstisch begeben, meldete sie: „Patient schläft!“
Während Dr. Munther und Dr. Breitner schnell und präzise arbeiteten, ließ die Narkoseärztin keinen Blick von den Kontrollgeräten, die sie über den Zustand des Operierten informierten.
Der Eingriff war schon fast beendet, Dr. Munther wollte gerade seinen Platz räumen, da meldete die Anästhesistin: „Blutdruck sinkt rapide! Herztätigkeit verlangsamt sich!“
„So ein Mist!“, stieß Markus Breitner hervor.
Mit einem langen Schritt war Dr. Munther wieder an seinem Platz. Präzise und knapp kamen seine Worte und Anweisungen, die in der Hauptsache Schwester Barbara betrafen.
„Eine Injektion! Schnell! Beeilen Sie sich! Ich muss den Kreislauf stützen! Und machen Sie vorsichtshalber Strophantin fertig. Falls es nicht anders geht, bekommt er eine Spritze direkt ins Herz.“
Minutenlang arbeiteten die Ärzte verbissen, dann endlich war es geschafft: Der Kreislauf wurde stabiler, der Blutdruck regulierte sich. Dr. Tatjana Holldorf war zufrieden.
„Das war in letzter Minute“, seufzte sie auf, als der Patient endlich fertig verbunden auf die Intensivstation gefahren wurde.
„Sie haben recht“, stimmte ihr Dr. Breitner zu.
„Ich hätte bis zum Letzten gekämpft.“ Dr. Munther, der an sich recht schweigsam war und seine Pflicht tat, ohne viel Gefühl zu zeigen, wischte sich über die Stirn. „Es wäre zu blamabel gewesen, wenn gerade dieser Eingriff misslungen wäre. Der Professor hätte es uns nie verziehen.“
Und Ihre Eitelkeit es Ihnen auch nicht, dachte Barbara respektlos, während sie schweigend die Instrumente beiseite räumte.
In den letzten Stunden war ihre Abneigung gegen den Oberarzt noch gewachsen. Sie wusste im Grunde selbst nicht recht, was sie eigentlich gegen ihn hatte. Sie wusste nur eins: Er hatte Professor Gerstenbach beleidigt. Und das konnte sie ihm aus einem ganz bestimmten Grund, der jedoch ihr Geheimnis war, nicht verzeihen.
3
„Guten Morgen, Herr von Wietershausen. Wie fühlen Sie sich denn heute?“ Mit einem berufsmäßig freundlichen Lächeln betrat Tatjana Holldorf das elegant eingerichtete Krankenzimmer der Privatstation, in dem der Unfallpatient lag, der am vergangenen Sonntag eingeliefert worden war, und dem sie Erste Hilfe geleistet hatte.
„Wenn ich Sie sehe, Gnädigste, dann fühle ich mich direkt viel besser.“ Der Mann im reinseidenen Schlafanzug richtete sich ein wenig auf, soweit dies die Gipsverbände und der Streckverband, den er um die Rippen trug, zuließen.
Tatjana trat an das Bett heran und reichte dem Patienten die Hand. Es war seltsam, sonst tat sie so etwas nicht, doch bei Graf Max von Wietershausen machte sie eine Ausnahme.
Geschah das nur, weil er einen Adelstitel trug, weil er offenbar aus altem, blaublütigem Geschlecht war?
Nein, gestand sich die rothaarige Ärztin ein, es war etwas anderes, was sie dazu trieb, bei Max von Wietershausen ihre spröde Zurückhaltung aufzugeben:Er gefiel ihr als Mensch, als Mann, und zwar besser als alle Männer, die sie bisher kennengelernt hatte. In der Nähe dieses Mannes wurde sie ihrem Vorsatz, ihr Leben nur in den Dienst der Kranken zu stellen, schwankend.
„Was verschafft mir die seltene Ehre?“ Der Graf lächelte Tatjana charmant an.
Obwohl er sich nicht allzu viel bewegen konnte, machte er keineswegs den Eindruck, krank und hilfsbedürftig zu sein. Vielmehr gab er sich auch in dieser Situation weltmännisch gewandt, was vor allen Dingen auf die jungen Schwestern, die ihn betreuten, ungeheuren Eindruck machte. Darüber vergaßen sie ganz, dass er ihnen in all den Tagen, die er schon auf der Station war, noch nicht ein einziges Mal Trinkgeld gegeben hatte.
Sogar Schwester Dora, die in ihrem zweiten Lehrjahr war, hatte nichts von ihm bekommen, als sie für ihn in die Stadt gefahren war, um ihm drei seidene Schlafanzüge und einen ebenfalls seidenen Morgenmantel zu kaufen.
„Ich kann mich nicht an die Anstaltshemden gewöhnen, die man mir nach meiner Einlieferung übergezogen hat, mein liebes Kind“, hatte Graf Wietershausen mit einem charmanten Lächeln gesagt. „Hätten Sie vielleicht die Freundlichkeit, für mich in die Stadt zu gehen und bei einem erstklassigen Herrenausstatter ein paar Schlafanzüge und einen Morgenmantel aus Seide für mich zu kaufen? Ich kann es leider nicht selbst erledigen und auch meinen Butler nicht bitten, extra deswegen die vielen hundert Kilometer zu reisen, nur um mir hier ein paar kleine Handreichungen zu erledigen.“