Wir sind die Bunten. Erlebnisse auf dem Festival-Mediaval. Bernhard Hennen
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»Keinesfalls,« lache ich. »Ich habe darum gebeten! Mal etwas Abwechslung hörte sich gut an. Mit den Jahrhunderten werden die Tage auch in den prunkvollsten Hallen lang.«
Ob ihn die Erklärung enttäuscht, weiß ich nicht. Ich belasse es bei einem dankenden Nicken an die Bäckerin, verspeise das letzte Vanillegebäck und hole tief Luft. Dann soll es also beginnen.
Bevor ich nach Selb aufgebrochen bin, hat man mir eine sehr lange Liste mit zu prüfenden Details eingetrichtert. Ich habe das im ersten Augenblick für übertrieben gehalten, verstehe beim Anblick dieses Geländes nun aber ihre Notwenigkeit. Ein wenig scheint die Zeit hier stehengeblieben. Zu welcher Epoche genau, darüber ist Einigkeit gar nicht nötig. Stattdessen schwelgt jeder für sich in den Andenken und Erinnerungen an das Zeitalter der Menschheit, das am besten den Klang der eigenen Seele trifft. Nordische Anhänger werden neben arabisch anmutender Gewandung verkauft. Ich sehe Seefahrer im Stil der britischen Rotröcke neben keltischen Damen und hochmittelalterlichen Adeligen stehen. Gemeinsam mit Geschöpfen aus Fantasie und Mythen, die sich als Bild oder Figur im Sortiment vieler Händler finden, verwandelt sich all das in eine fließende Huldigung an die Vergangenheit, die viel näher scheint als die Gegenwart.
Wieder fegt ein kurzes Stück Musik wie eine Sturmböe über den Platz. Ich bedauere es fast ein wenig, dass es schnell abgebrochen wird, um die Technik nachzujustieren. Hoffentlich hat der Kerl vom Bühnenteam, den man mir vorgestellt hat, alle meine Anweisungen auch wirklich verstanden. Ich werde mir das zum Schluss ansehen. Ein bisschen komme ich nun selbst in Fahrt, freue mich über die Harfe, die hinten hinter den Bäumen angespielt wird. Vielleicht lasse ich mich etwas zu sehr von der guten Laune beflügeln. Den armen Verkäufer am nordischen Schmuckstand hätte ich auch nach der dritten Nachfrage in Ruhe lassen können. Stoisch wie ein Schüler bei der Klassenarbeit erklärt er mir Anhänger für Anhänger die mythische Bedeutung der Symbole. »… das ist ein mögliches Abbild Odins, die sogenannte Aarhus Moesgaard Maske … eine Walkürendarstellung aus Schweden … dieser Anhänger ist dem Muster der Mammenaxt aus der Zeit um 950 n.Chr. nachempfunden …«
Ich habe nichts zu beanstanden, auch er bekommt eine Notiz mit einem Haken. Der junge Mann aus der Orga beginnt sich neben mir allmählich zu entspannen. Fast scheint es ihm peinlich, als ich einen der Fotografen, der erste Impressionen vom bunten Treiben einfängt, sehr ausführlich zu seiner Kamera befrage und mir das Gerät vorführen lasse. Zu meiner Erleichterung liegen die Menschen damit richtig, dass der Vorgang des Fotografierens für die Seelen der Abgelichteten keinerlei Gefahr darstellt. Ich kann beim besten Willen keinen gebundenen Geist in oder um das Gerät herumschwirren sehen. Als der Fotograf mir zum Schluss versichert, es sei auch kein Kobold in der Kamera gefangen, lachen wir beide. Als ob er so ein launisches Biest eine halbe Woche lang in einem kleinen Kasten einsperren könnte!
Erstaunlicherweise macht sogar die Wahrsagerin ihre Sache nicht schlecht. Ich habe mich für Handlesen statt Kartenlegen entschieden, und sie grübelt eine ganze Weile über die feinen Linien in meiner Haut. Immer wieder fängt sie dabei meinen Blick, sieht hinunter zur Hand, als könne sie in meinen Augen mehr lesen als am eigentlichen Ort der Vorhersehung. »Ihr habt mehr als ein Leben gelebt, werte Dame …«, beginnt sie zögerlich und scheint ihren eigenen Worten nicht recht trauen zu wollen. »Hier ist … eine Entscheidung … eine Auswahl. Ihr seid von einer mächtigen Person erwählt worden, euer altes Dasein aufzugeben. Ich habe noch nie … einen so heftigen Bruch … in einer Schicksalslinie gesehen.«
»Das genügt mir.« Ich ziehe ihr die Hand weg und mache stattdessen eine neue Anmerkung auf meinem Klemmbrett. Der junge Mann von der Orga atmet auf, nachdem ich ihm verkündet habe: »Wir sind hier gleich fertig. Ich will noch einen schnellen Blick in die Lager werfen, dann können wir zur Bühne gehen.«
Halb gebückt schälen wir uns aus dem kleinen Zelt der Wahrsagerin zurück ins Zwielicht des Abends. Der Junge ist für seine Verhältnisse richtig ins Reden gekommen, während er mir die einzelnen Lagergruppen aufzählt. Fast wäre er mir vorausgeeilt, als ich im Augenwinkel einen letzten Blick auf einen Gewandungsstand erhasche – und plötzlich stutze. Eigentlich hatte ich das Sortiment schon als uninteressant abgehakt. Der Verkäufer bietet vorrangig Stangenware feil, Grundausstattung, die sich Neulinge auf dem Festival gern als erstes Gewand für kleines Geld zulegen. Was er nun offensichtlich eben erst einer Kiste entnommen hat und auf einem Kleiderständer drapiert, passt so gar nicht in die banale Sammlung aus Untergewändern und Walkwollmänteln. Meine Begleitung erstarrt jäh, als er mich auf den Stand zuschreiten sieht und ich den Verkäufer direkt angehe: »Woher habt Ihr das?«
Im ersten Moment scheint der Mann sich gar nicht angesprochen zu fühlen, sondern hebt das kostbare Kleidungsstück weiter ungerührt über den Ständer. Ich will beim Näherkommen meinen Augen kaum trauen. Was der Verkäufer dort ausstellt, muss für einen Außenstehenden wie ein sonderbarer Mantel wirken. Er hat ein dunkles Lederinnenfutter und einen einfachen, viereckigen Schnitt. Eine feine Spange hält ihn am Hals zusammen. Bemerkenswert ist erst das Material, aus dem sein Äußeres gefertigt wurde. Der Mantel ist über und über mit hellen Federn bedeckt. Viele von ihnen sind erstaunlich schmutzig und wirken in die Jahre gekommen. Es scheint nichts zu sein, was ohne weiteres zum Verkauf steht.
»He da!«, werde ich nun unfreundlicher. »Was glaubt Ihr, was Ihr da habt? Woher habt Ihr diesen Mantel?«
Endlich wird der Kerl auf mich aufmerksam. Wenig beeindruckt von meinem Auftreten streicht er eine Falte glatt und empfängt mich mit den Worten: »Jetzt mal nicht so aufdringlich! Ich weiß selbst, was das für ein Schmuckstück ist. Das ist nur ein Ausstellungsstück!«
»Und wo kommt es her?« Kann es echt sein? Die Federn, das Leder, es wirkt gebraucht und vielfach getragen. Kritisch prüfe ich es auf Nähte – war es mit der Maschine genäht? Schwer zu sagen. Meine Begleitung beschwichtigt währenddessen den Verkäufer, der sich nicht mit der Auskunft zufriedengibt, ich hätte die Berechtigung, all dies hier zu prüfen.
»Jetzt hören Sie mal,« wendet er sich wieder an mich. »Das ist ein Erbstück. Fragen Sie mich nicht, wie alt das ist. Wir haben dafür keine geschützten Tiere getötet oder irgendwas dergleichen. Das sind ganz normale, und ich betone noch mal, ziemlich alte Schwanenfedern. Ich benutze das nur als Deko. Das wird nicht verkauft. Was genau gibt es für ein Problem damit?«
Ich ignoriere seine Frage. »Also wird es nie getragen?«
»Meine Frau wollte es für eine Zeremonie oder sowas mal anziehen. Damit lässt sich ein fabelhafter Schamane darstellen. Was genau ist Ihr Problem?«
Dass du nicht weißt, was du vor dir hast, antworte ich ihm in Gedanken. Offensichtlich hat er keine Ahnung, welche Macht dieses Gewand freisetzen kann – sofern es denn echt ist. Wie ich ebendies belegen soll, ist mir jedoch schleierhaft. Es ist bisher niemals nötig gewesen. Keine Trägerin lässt ihr Schwanengewand unbeaufsichtigt. Ich muss herausfinden, was mit seiner rechtmäßigen Besitzerin geschehen ist. Sofern ich recht behalte, handelt es sich nicht um diese Art Kleidungsstück, die man seinen Enkeln einfach vererbt.
Ich muss nachdenken. Diskretion ist mein oberstes Gebot, ich soll nicht zu sehr auffallen – bei aller Sorgfalt. Ein wenig Zeit ist nötig, damit ich mir Gedanken machen kann, wie ich die Echtheit dieses Kleidungsstücks nachweisen soll. Doch wer hat diesen fast knöchellangen, unpraktischen Mantel so weit abgenutzt, dass er wie viele Jahrzehnte getragen wirkt?