In Gedanken: singen. Ralf Peters
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Agnes Pollner danke ich für alles und dafür, dass sie praktisch jeden der hier veröffentlichten Texte im Entstehen begleitet und frühere Versionen gelesen und kritisch kommentiert hat.
Das Buch möchte ich dem Andenken an zwei Menschen widmen: Marita Günther und Sheila Braggins. Beide waren enge Vertraute und langjährige Schülerinnen von Alfred Wolfsohn. Sie haben mir nicht nur einen im besten Sinne authentischen Einblick in Leben und Werk des Begründers unserer Stimmarbeit gewährt und den Weg geebnet, um Stimme und Philosophie zusammenzuführen, sondern darüber hinaus haben sie mit ihrer großen Persönlichkeit Zeugnis gegeben, dass es in unserer Tradition der Stimmentwicklung nie nur um die Frage geht, wie ich singe, sondern dahinter die entscheidende Frage steht: Wie lebe ich?
Köln, im Juni 2020
P. S.: Im Netz finden sich Informationen über meine Arbeit mit der Stimme unter www.stimmfeld.de. Dort gibt es auch die Links zu meinen verschiedenen Blogs. Mein kleiner Internet-Kramladen steht unter hoerfeld.de. Über die Aktivitäten des stimmfeld-Vereins und des Ensembles KörperSchafftKlang kann man sich informieren auf www.stimmfeld-verein.de.
EINE STIMME MEINER KINDHEIT1
Der Gegenstand, von dem ich hier erzählen möchte, ist genau genommen gar kein Gegenstand. Er steht nie gegenüber und wenn er sich zeigt, ist er ständig in Bewegung. Er hat einen durch und durch flüchtigen Charakter, obwohl er sich tief in die Erinnerung einprägen kann, und dies in dem Beispiel, das ich vorstellen möchte, auch getan hat. In seiner ursprünglichen Form kann er nicht festgehalten werden, er entzieht sich im selben Moment, in dem er auftaucht. Seine Präsenz ruft in Menschen oft starke innere Reaktionen hervor: Gefühle, Vorstellungen, Sehnsüchte, Ängste. Er gehört dem Feld der Kunst an und dem der Alltagswelt. Tagtäglich haben wir mit diesem ungegenständlichen Gegenstand zu tun, doch nur selten achten wir auf ihn.
Die Rede ist von der menschlichen Stimme. Die eine Stimme, die in meiner Kindheit offenbar laut genug war, um in mir als Erinnerung heute nachzuklingen, kam allerdings in einer fixierten Form zu mir. Die Stimmklänge waren auf eine Schallplatte aus Vinyl gestanzt. Die Platte steckte in einer dünnen weißen Papierhülle, die in einer aus Pappe gefalzten Tasche lag. Zu dieser Zeit nannte man diese Hüllen noch nicht Cover. Aufrecht im sehr überschaubaren Plattenregal meiner Eltern stehend, wartete sie darauf, mithilfe einer kleinen Holzkiste, mit rundem Plattenteller, Tonarm und Lautsprecher im Deckel, zum Erschallen gebracht zu werden. Mein nicht ganz perfekter, weil so flüchtiger Gegenstand, besaß also ein handfestes Gegenstandskleid, eine Art Zuhause, in dem er zu jeder Zeit gefunden und begrüßt werden konnte. Obwohl auch das nicht ganz stimmt, denn die Platte ist mittlerweile verschwunden. Ich kann sie nicht mehr finden, weder bei mir, noch im Keller meines Elternhauses. Ganz so groß ist der Unterschied am Ende vielleicht doch nicht zwischen flüchtigem und scheinbar stetigem Gegenstand.
Auf der Plattenhülle sah man, soweit ich mich erinnere, in schwarzweiß (vielleicht gab es irgendwo einen roten Fleck?) das relativ dunkle Gesicht eines Mannes Mitte dreißig, mit grauer Fellmütze und ohne Vollbart. Das ist insofern wichtig, als ich den Mann nirgendwo sonst in den folgenden Jahrzehnten bartlos gesehen habe. Das Gesicht war im Halbprofil leicht von oben fotografiert. Rechts neben dem Kopf große kyrillische Buchstaben, von denen ich bis heute nicht weiß, was sie bedeuten. Darunter der Text in deutsch: Ivan Rebroff und der Don Kosakenchor singen russische Volksweisen.
Jetzt ist es raus. Meine erste Platte, die ich vermutlich auf eigenen Wunsch von meinen Eltern bekommen habe – oder vielleicht war es so: Es gab sie schon vorher und ich habe sie zu meinem Besitz erklärt? –, war nicht von den Beatles, deren Fan ich erst später wurde. Sie war nicht von Ella Fitzgerald, Yma Sumac oder Jimi Hendrix – ganz zu schweigen von Maria Callas oder Richard Tauber. Meine erste Platte war von einem deutschen Sänger mit russischen Vorfahren, der sich als volkstümlicher Russe ausgab, um sich und seiner bemerkenswerten Stimme ein Image zu geben, mit dem seine stimmlichen Fähigkeiten akzeptabel und fast natürlich erscheinen konnten.
Die Imagefragen haben mich als acht- oder neunjähriger Junge nicht interessiert. Ich war zuerst angezogen von der Aura, die das Plattencover verströmte. Der Mann auf dem Bild schaute mich mit skeptisch-abweisendem Blick an und er lächelte nicht. Er schaute missmutig zu mir herüber, als wolle er mich eher warnen als einladen, ihm in seine Musik zu folgen. Auf der Rückseite der Plattenhülle gab es versteckt zwischen schwarzweißen Textblöcken ein Foto, auf dem man von weitem auf ein Lagerfeuer blickte, um das ein paar Männer herumstanden oder saßen. Einer hatte eine Balalaika in der Hand. Auch hier kam nicht der Eindruck von offenen Armen auf. Diese Leute wollten am liebsten unter sich bleiben und ihre Lieder singen. Publikum würde da nur die Atmosphäre stören. Der fast unwirklich erscheinende Abstand, den diese Bilder zu mir aufbauten, das Verweigern, mir eine Brücke hinein in deren Welt anzubieten, hat auf seltsame Weise in meiner jungen Seele Anklang gefunden. Ich war neugierig.
Dann diese düstere und zugleich warme Stimme des Sängers, eingebettet in den Chor der Männerstimmen, die sich wie dunkle Traumbilder um den Gesang von Ivan Rebroff bewegten. Nicht die Musik hat mich fasziniert. Sie wirkte auf mich so fremd und fast abweisend, wie es zu den Bildern auf dem Cover passte. Wenn man von dem russischen Gassenhauer »Kalinka« absieht, kann ich mich nicht an ein einziges Lied auf der Platte erinnern. Die Faszination kam aus der Stimme. Doch warum gerade diese vier Oktaven umfassende, zwischen Bärengrollen und Vogelgezwitscher springende Stimme? Warum nicht Heino, von dem es in unserem Plattenschrank ebenfalls ein oder zwei Schallplatten gab, die ich mir auch anhörte, ohne die Faszination oder besser die Neugierde zu spüren, die Ivan Rebroff in mir auslöste.
Die Stimme Rebroffs wird mich damals an die Stimme meines oft absenten Vaters erinnert haben. Beide klangen dunkel, warm, mit einem Schuss Unergründlichkeit, tief, nicht nur im tonalen Sinne, sondern wirklich aus der Tiefe emporsteigend. Deshalb wäre Heino als klanglicher Sehnsuchtsanker kaum in Frage gekommen. Seine Stimme klang für mich nie so, als säße sie in der Tiefe, eher als würde sie dorthin befehligt. Nach meinem Stimmbruch ähnelte zumindest meine Sprechstimme für einige Jahre sehr der meines Vaters. Am Telefon wurde ich regelmäßig mit ihm verwechselt. Menschen, die mich nicht kannten, dachten, sie sprächen mit meinem Vater, und in Telefonaten mit der Familie gab es bei der gegenseitigen Namensnennung immer wieder Irritationen.
In dem kindlichen Bild der Sehnsucht hatten die Don Kosaken womöglich die Rolle meiner Onkel inne, den sieben allesamt älteren Brüdern meines Vaters, die gemeinsam alle Chorstimmen besetzen konnten und die bei Familienfeiern die musikalische Untermalung übernahmen. Mit einer Freude am Singen, einer Spontaneität und Selbstverständlichkeit, die nicht nur in unserer Familie mittlerweile ausgestorben ist. Ich sah und hörte diesem Schauspiel damals aus einer inneren Ferne zu, und niemand ist auf die Idee gekommen, mich oder ein anderes der Kinder, mitsingen zu lassen. Das erinnert mich an meine Reaktion auf das Plattencover von Ivan Rebroff. Die gleiche Distanz, die von Seiten der Sänger nicht aufgelöst wird und die mich vielleicht deshalb so anzieht. Den eigenen Raum wahren und trotzdem in Kontakt mit der Welt sein. Wie mir erst sehr viel später klar werden sollte, spielt hier ein Charakteristikum der Stimme mit hinein, das diese Figur aufnimmt. Wenn meine Stimme in Aktion ist, bildet sie mit mir, meinem Körper, meiner Aufmerksamkeit einen eigenen Raum und zugleich geht sie hinaus, zeigt sich der Welt und nimmt Kontakt auf.
Meine Onkel konnten alle so genannten Männerstimmen vom tiefen Bass (meines Vaters) bis zum hohen Tenor besetzen. Aber einen Sopran gab es nicht. Die volkstümlich männliche Gesangstimme in deutschen Landen hatte für Sopranisten nichts übrig. Das war und ist im russischen Gesang anders. Hier hat der stimmliche Kontrabass sein Gegenüber im Sopran, der genauso männlich gehört wird wie die anderen Stimmlagen. Ivan Rebroff war in der Lage, mit seiner Stimme geschmeidig über die vielen Oktaven zu gleiten, aus dem tiefen Bass in den hohen Sopran zu wandern, ohne irgendeine Anstrengung hören zu lassen. Er konnte in dem einen Moment