In Gedanken: singen. Ralf Peters
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Ich habe früh angefangen zu singen, erst im Kinderchor der Schule und bald darauf im etwas anspruchsvolleren kirchlichen Jungenchor, der bei uns im Dorf Schola genannt wurde, mit deutschen SCH ausgesprochen. Ich war, soweit ich mich erinnern kann, ein ganz solider Sänger, mit einem schönen Sopran, der sich gut in den Chorklang einfügte. Mir hat das Singen Spaß gemacht, aber ich kann nicht behaupten, dass in mir irgendwelche stimmlichen Erweckungserlebnisse passiert wären. (Die kamen später.) Es gab keine über das Chorsingen hinausgehenden Ambitionen oder Wünsche. Musik wurde nicht zu meinem Lebensinhalt, sondern blieb eine nette Nebensache.
An dieser Stelle habe ich meine Erinnerungsnotizen abgebrochen und mich im Internet auf die Suche nach dem Cover der Platte gemacht, die mir in der Kindheit so wichtig war. Natürlich bin ich in kürzester Zeit fündig geworden und überraschenderweise erwies sich meine Erinnerung als ziemlich valide. Das Cover sieht so aus, wie ich es mir nach immerhin gut vier Jahrzehnten vor meinem inneren Auge vorstellte. Selbst den von mir vermuteten roten Fleck gibt es. Der deutsche Text »Ivan Rebroff singt Volksweisen aus dem alten Russland« ist in roter Farbe gedruckt. Aber einen bedeutsamen Fehler hat mein Gedächtnis doch fabriziert. Von den Don Kosaken, die ich glaubte, auf der Platte gehört und auf dem Cover angekündigt gesehen zu haben, findet sich keine Spur. Mein Erinnerungsvermögen hat sich an dieser Stelle als kreativ erwiesen und das aus guten Gründen. Wie ich mittlerweile durch meine kleinen Recherchen weiß, hat Ivan Rebroff mit einem Don Kosaken Chor gesungen und wahrscheinlich auch gemeinsame Aufnahmen gemacht. Vielleicht hatte ich davon als Kind auch schon gehört. Aber das ist nicht entscheidend.
Der Gesang der Don Kosaken tauchte viele Jahre später wieder in meinem Leben auf. Die Geschichte ereignete sich in London, wo ich eine Frau namens Sheila Braggins besuchte. Sie war in den fünfziger und frühen sechziger Jahren eine Schülerin des Stimmlehrers Alfred Wolfsohn gewesen, der vor den Nazis aus Berlin nach London fliehen musste. Seine sehr ungewöhnlichen Ideen zur Stimmentwicklung hatte er in den zwanziger und dreißiger Jahren noch in Deutschland entwickelt, und nach dem Krieg begann er in London zu unterrichten. Zu seinen ersten Schülern gehörte der Regisseur Peter Zadek, der in seinen Memoiren schreibt, Wolfsohn sei für einige Jahre so eine Art Guru in der (jüdischen) kulturellen Szene Londons gewesen. In Wolfsohns (nicht veröffentlichten) Erinnerungen kann man lesen, wie prägend für ihn das Erlebnis war, als er zum ersten Mal die Don Kosaken hörte. Hier konnte er in einem musikalischen Zusammenhang Stimmen hören, die sich offenbar nicht um die klassische Aufteilung der Stimmlagen und die damit einhergehende Abgrenzung eines männlichen und eines weiblichen Bereiches, zu scheren schien. Wolfsohn ging es um die Überwindung der kulturellen Beschränkungen, in der einer Stimme auch nur eine Stimmlage zugeordnet wird, in der sie zu tönen und zu singen hat. Seiner Überzeugung nach kann sich jede menschliche Stimme im Prinzip in jeder menschenmöglichen Stimmlage bewegen und seine Idee der Stimmbefreiung zielt darauf ab, der Stimme diese ursprüngliche Freiheit zurückzugeben. Und da sind wir wieder bei Ivan Rebroff, dem Ein-Mann-Don-Kosaken-Chor, wie er einmal genannt wurde. Seine Stimme war in der Lage, sich über mehr als vier Oktaven souverän zu bewegen. Das ist der Umfang vom tiefen Bass bis zum hohen Sopran, vom tiefen F bei Sarastro bis zum zweigestrichenen F der Königin der Nacht. Wolfsohn hatte in den fünfziger Jahren Schülerinnen und Schüler, die alle Arien der Zauberflöte singen konnten. Der Umfang von einigen Stimmen, die er geformt hat, war sogar noch weit größer, wie wir heute noch in Aufnahmen von Roy Hart, dem Schüler, der später die Arbeit weiterentwickeln und für das Theater fruchtbar machen sollte, und Jill und Jenny Johnson hören können. Sheila Braggins gehörte ebenfalls zu diesem Schülerkreis. Als ich sie in London traf, hatte ich schon gut zehn Jahre mit verschiedenen Lehrern, die sich auf Wolfsohn und seinen Nachfolger Roy Hart berufen, gearbeitet. Sheila war zu diesem Zeitpunkt 80 Jahre alt und verfügte noch immer über einen fulminanten Stimmumfang, obwohl sie nach dem Tod Wolfsohns 1962 aufgehört hatte zu singen. Von Wolfsohn hatte sie eine Platte mit Aufnahmen der Don Kosaken aus den dreißiger Jahren geerbt, die sie mir bei dem Besuch vorspielte. Das Beeindruckendste an dieser Vorstellung war für mich die jugendliche Begeisterung von Sheila für die Qualität der Stimmen und für ihre damit verbundenen Erinnerungen an ihren geliebten und verehrten Lehrer. Doch die Chorgesänge waren in der Tat außergewöhnlich. Ich bin kein Experte für Don-Kosaken-Chöre, aber im Vergleich mit neueren Aufnahmen, die ich mir danach anhörte, erweist sich die Qualität des alten Chores als herausragend. Die geschmeidige Beweglichkeit, die Tiefe als klangliche Qualität jenseits der Tonhöhe, die Wärme und Lebendigkeit dieser Stimmen waren im echten Sinne berührend. Da sangen Sänger nicht nur Töne sondern Gefühle, und plötzlich war deutlich, dass hinter dem Klischee von der russischen Seele ein starker, wahrer Kern liegt. Wolfsohn konnte in den Don Kosaken nicht nur seine Vorstellung der frei mit allen Registern spielenden Stimme bestätigt hören, sondern auch dass seine zweite Grundüberzeugung in diesem Chor schon realisiert worden war. Für ihn war entscheidend, dass jeder menschliche Stimmklang mehr ist und darstellt als ein rein klangliches Phänomen. In jeder stimmlichen Äußerung ist etwas zu hören von dem Menschen, der seine Stimme gerade zeigt, von seiner Geschichte, seiner inneren Situation, seinen Sehnsüchten, seinen Ängsten, seinen Vorstellungen, Erfahrungen und Hoffnungen. Deswegen bestand für Wolfsohn die Stimmentwicklung auch nie darin, irgendwelche Übungen zu machen, um den Stimmapparat zu schulen, sondern darin, der Stimme zuzuhören, herauszufinden, wo sie gerade ist und wo sie hinwill, und ihr dann auf ihrem Weg zu folgen. Die Stimme in dieser Weise wahrzunehmen, bedeutet auch darauf zu achten, was durch den Stimmklang im tönenden Menschen und im zuhörenden ausgelöst wird. Es geht darum, den inneren Reaktionen Gehör zu schenken und sie ernst zu nehmen. Dann erfährt die Stimme die Erlaubnis, sich zu öffnen, oft genug in Regionen, die dem Tönenden vorher geradezu undenkbar schienen.
Es gibt Menschen, die diese Offenheit, zumindest in Hinblick auf den Umfang der Stimme, leicht erwerben oder von Anfang an besitzen. Jeder verfügt im Prinzip über die weiten Räume in der Stimme, doch bei einigen sind die Türen dahin bereits geöffnet.
Als ich nach einigen Umwegen, die mich unter anderem zur Philosophie geführt haben, mit Ende zwanzig begann, die Faszination für die menschliche Stimme im Allgemeinen und endlich auch meine eigene Stimme im besonderen wiederzufinden und ernst zu nehmen, stellte sich heraus, dass auch bei mir einige dieser Türen in neue Stimmräume leicht zu öffnen waren. Es fiel mir nicht besonders schwer, meiner Stimme auch dann noch zuzuhören, wenn sie aus dem so genannten normalen Klangbereich hinaustrat. Diese Freiheit verdanke ich wohl auch der frühen Hörerfahrung mit Ivan Rebroff.
Wenn ich darüber nachdenke, wie wenig Aufmerksamkeit ich meiner Stimme in den ersten Jahrzehnten meines Lebens gewidmet habe und wie sehr die Stimme immer wieder versucht hat, genau diese Aufmerksamkeit zu erregen, dann überkommt mich ein merkwürdiges Gefühl, als ob es vorherbestimmt gewesen sei, dass die Stimme zu meinem Lebensthema werden müsste. Nur habe ich lange gebraucht, um das zu erkennen und zu akzeptieren. Vorherbestimmung klingt in meinen Ohren wie metaphysische Folklore, aber noch weiß ich nicht, wie ich dieses Phänomen besser in Worte fassen soll. Übrigens ist die Ignoranz der Stimme gegenüber nicht nur mein persönliches Problem gewesen. Die meisten Menschen beschäftigen sich erst mit ihrer Stimme, wenn es damit Probleme gibt. Darüber hinaus zeichnet sich auch die Philosophiegeschichte dadurch aus, mit erschreckender Konsequenz die menschliche Stimme nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Seit Platon wurde sie durchgehend nur als eine Art Vehikel für die Sprache verstanden, der keine eigenständigen Qualitäten zukommen. In der Musik spielt sie eine gewisse Rolle, aber als mögliche Quelle anthropologisch wertvoller Erkenntnisse rückt sie erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts in den Fokus. Nicht zufällig fällt dieses neuerwachte Interesse an der Stimme zeitlich mit einer bahnbrechenden Erfindung zusammen: der Möglichkeit, Stimmklänge technisch aufzuzeichnen und unabhängig von der Präsenz des Menschen, dem die Stimme eigen ist, abzuspielen. Erst dadurch bekam die Stimme die Eigenschaften, die sie zu einem Gegenstand machen, wie ihn die Philosophie gerne hat. Sie verliert einen Teil ihrer Flüchtigkeit und lässt sich beliebig oft abspielen und hören. So wie der Gegenstand meiner Kindheit, von dem hier die Rede ist.
Ivan Rebroff gehörte zu den Menschen, die nicht lange nach ihrem großen Stimmumfang suchen müssen.