Grimmelshausen. Dieter Breuer
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Die „Wahrheit der Geschicht“ bleibt auch in seinen folgenden Historien leitender Gesichtspunkt. Im Fall der Dietwalt-Historia kündigt er dem Widmungsempfänger Philipp Hannibal von Schauenburg „Zwar Alt Fränckisch/doch warhaffte und curiose Geschichten“ an und verknüpft diese sogar mit der Geschichte des schauenburgischen Adelsgeschlechts.11 Die Rolle des auf die Wahrheit verpflichteten Historikers nimmt er ernst; auch innerhalb seiner Darstellung der fränkischen Geschichte erinnert er den Leser an diese Pflicht des Historikers: „Weil aber einem jedwedern Historico die Wahrheit zu schreiben gebührt/sihe/so werde ich nicht verschweigen was dieser Könige unsterblich Lob verdunckelt.“12 Das abschließende Geleitgedicht legt dem Autor in den Mund, er habe „nur zur Lieb der edlen Warheit“ seine Feder angesetzt, er selbst habe davon keinen Gewinn.13
Wie er sich in der Joseph-Historia an den vorgegebenen geschichtlichen Verlauf hält, so auch in den folgenden Historien: Die Abfolge der weltgeschichtlichen Ereignisse im gewählten Zeitabschnitt wird sowohl in seiner „altfränkischen“ wie in der oströmischen Historia ständig präsent gehalten. Das entspricht zwar nicht den Erwartungen eines Romanlesers, wohl aber den belehrenden Absichten des Historikers. Für die Joseph-Historia liefert er die welthistorischen Zusammenhänge im „Musai“ nach, auch dies nicht unbedingt zur Freude eines heutigen Lesers.
Die „Wahrheit der Histori“ besteht aber nicht nur in der Treue zu den historischen Fakten, sondern letztlich in ihrem heilsgeschichtlichen Sinn. Diesen aufzudecken, gehört zu den Aufgaben des barocken Historikers. Die Joseph-Historia ist schon im Titel als „Exempel Der unveränderlichen Vorsehung Gottes“ deklariert, in der Sproßgeschichte Musai wird auch die heidnische Welt exemplarisch dem Wirken der göttlichen Vorsehung unterstellt. Die für die beiden anderen Historien gewählten Abschnitte aus der fränkischen bzw. der oströmischen Geschichte stellen den Historiker vor erheblich höhere Anforderungen, gilt es doch hier, Abschnitte der Weltgeschichte mit besonders verworrenen und sinnlos erscheinenden Ereignisketten und nicht abreißenden brutalen Machtkämpfen in den biblisch verbürgten heilsgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen und die verschlungenen Wege der göttlichen Vorsehung zu erkunden. An solch „veränderlichen Zeiten“14, an der „Aenderung eins Staads“15 bzw. der Staatenwelt hat sich der Scharfsinn und die Gestaltungskraft des Historikers zu bewähren. In der Vorrede zu Proximus und Lympida stellt Grimmelshausen gleich im ersten Satz dieses zentrale Problem des Historikers heraus:
DJe wunderbarliche Zeit/von Anno Christi 570. biß auff Anno 650. darinnen sich diese unsere liebliche Histori unter Regierung der Käyser Mauritii, Phocae und Heraclii hat zugetragen/ist so seltzam und veränderlich gewesen/daß sie billich/durch glaubwürdiger Geschichtschreiber hinderlassener Bücher wegen so vielerhand zum theil angenehmen: zum theil erschröcklichen Begebenheiten/die sich darinnen […] allenthalben in der Welt eraignet haben/der posterität so merckwürdig und berühmbt vor Augen gestellt wird/als immermehr ein Seculum, das die Menschen seith der allgemeinen Sprach Verwirrung belebet. 16
Das Problem des Historikers – dies deuten die Attribute „wunderbarlich“, „seltzam“, „merckwürdig“ an – besteht darin, den gewählten historischen Abschnitt mit „veränderlichen“, scheinbar chaotischen Zeitläuften, mit ihren von der Nachwelt extrem positiv und extrem negativ bewerteten Begebenheiten, als letztlich zielgerichtet und sinnvoll zu erweisen: eben als Wirken der göttlichen Vorsehung. Der Leser solle, so heißt es am Schluß der Vorrede, aus der nachfolgenden Histori entnehmen, „daß dannoch der Allmächtige GOtt die seinige/die ihn lieben/förchten/ehren und ihm dienen/es gehe auch so Bund über Eck in der Welt her/als es immer wolle/ja wann der Teuffel in der Höll […] gleich selbsten ledig wäre/wunderbarlicher weiß erhalte/durchbringe/beschütze/beschirme […].“17
Grimmelshausens Wendung „Bund über Eck“ verweist auf den vorausgesetzten heilsgeschichtlichen Zusammenhang aller Historie, analog zum nicht immer gradlinig verlaufenden Bund Gottes mit seinem auserwählten Volk Israel.
Nun könnte man einwenden, eine solche Deutung der Geschichte sei nicht mehr Aufgabe des Historikers, sondern des Theologen und Predigers. Ein Historiker der Barockzeit sieht dies jedoch anders als die Humanisten vor ihm und die aufgeklärten Historiker nach ihm.18 Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung stehen im 17. Jahrhundert im Zeichen der Geschichtstheologie des Kirchenvaters Augustinus und seiner Lehre von den ineinander verschränkten Civitates Dei und terrena, von der Zielgerichtetheit der Geschichte als Heilsgeschichte und von der allumfassenden göttlichen Vorsehung, der die Reiche der Welt, die Fürsten wie die Untertanen, unterworfen sind.19 Die Vorrede zur Proximus-Histori Grimmelshausens ist im übrigen ein gutes Beispiel, geradezu ein Lehrstück augustinischer Geschichtsbetrachtung. Wie Augustinus wendet er sich auch gegen Versuche, Einzelereignisse als Erweise der göttlichen Vorsehung zu deuten und damit dem Verlauf der Geschichte vorschnell ein Ziel vorschreiben zu wollen. Erst längere Abfolgen von Ereignissen – Grimmelshausen wählt Zeiträume von 80 Jahren20 – können offenbar das Wirken der göttlichen Vorsehung sichtbar werden lassen. In der Dietwalt-Histori übt der Erzähler ostentativ Zurückhaltung in der Bewertung von einzelnen Handlungen, eine Zurückhaltung, die auch Augustinus empfiehlt:21
[…] was vermeint mein hochgeehrter Leser wol? […] Sollen dann diese hohe Personen von dessentwegen/daß sie ihre Grösse wusten und sich darinn erfreuen/so viel gesündigt haben/daß sie durch diese ihre freywillige Buß vermittelst deren sie alles verlassen/was die Menschen hochschätzen/und sich selbst den Bettlern gleich gemacht/noch nicht überflüssig genug gethan: und damit ihr Ubersehen ausgelescht haben? Mein freundlicher Leser ich ziehe die Achsel ein und halte mit meinem nichtigen Urtheil zuruck! den Folg dieser Histori fortzusetzen. 22
Die moraltheologische Frage nach der Vereinbarkeit von individuellem Handeln und göttlicher Vorsehung weist der Historiker ab. Erst die Abfolge der Histori läßt für ihn Rückschlüsse auf die göttliche Vorsehung zu. Erst am Ende wird offenbar, daß diese über die menschliche Vernunft triumphiert:
aber sihe! jetzt war der Tag der Widergeltung! es war eine Zeit/in welcher der allmächtige Gott der gantzen Welt zeigte/das er seine Diener erhoben vnnd beseeligen könde wann er woltt/vnnd hervor bringen möchte was gleichsamb albereit durch menschliche Vernunfft vorlängst in eine vermeintliche ewige Vergessenheit begraben worden […]. 23
Der bereits auf den Titelseiten der Erzählwerke behauptete Nutzen der Historie besteht also im Aufweis der alle Wirrnis der Weltgeschichte durchwaltenden, zielgerichteten göttlichen Vorsehung. Dies gilt zunächst für den Ausschnitt der Weltgeschichte, den der Historiker ausgewählt hat, läßt aber in analoger Weise auch Rückschlüsse für das Verständnis der Gegenwart zu. Die Dietwalt-Histori beschließt Grimmelshausen mit der Aufforderung an den Leser, „wegen deß vergangenen sich umb so viel destoweniger zu verwundern/wann er das Gegenwärtige vor Augen siehet und betrachtet“.24 Die Historie dient der Erkenntnis der Gegenwart, ist die magistra vitae.
II
Um die Aussagen Grimmelshausens über Aufgaben des Historikers und den Nutzen der Historie beurteilen zu können, empfiehlt sich wie auch sonst ein Blick in Tomaso Garzonis Piazza Universale und hier in den umfangreichen 38. Discurs „Von den Historicis, oder Geschichtschreibern“.25 Die Historia wird hier nach Cicero definiert als „eine Beschreibung einer Geschicht/so sich vor langen Zeiten hat zugetragen“.26 Solche „wahren“ Historien werden von den „Fabulosen oder gedichten Historien“ unterschieden; denn „Fabuln seyndt solche Historien/die niemals gewesen/vnd sich nirgends haben zugetragen“.27 Diese Unterscheidung findet sich, wie wir sahen auch in Grimmelshausens Vorrede zur Joseph-Histori. Zur Wahrheit der Historia macht Garzoni folgende Angaben: Die Historia muß „wahrhafftig/ja