Grimmelshausen. Dieter Breuer
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Aus einer (von Koschlig nicht erwähnten) Stelle in der „Continuatio“ geht zudem hervor, daß Grimmelshausen die „Vollkommenheit“ nicht eigentlich zu den Erzählprinzipien der Gattung Historia rechnet; er schreibt:
Mein großgünstiger hochgeehrter Leser/wann ich eine Histori zuerzehlen hätte/so wolte ichs kürzer begreiffen und hier nicht soviel Umbständ machen; ich muß selbst gestehen daß mein aigner Vorwitz von jedem GeschichtSchreiber stracks erfordert/mit seinen Schrifften niemand lang auffzuhalten; Aber dieses was ich vortrage ist eine Vision oder Traum/und also weit ein anders; ich darf nicht so geschwind zum Ende eilen/sondern muß etliche geringe Particularitäten/und Umbstände mit einbringen/damit ich etwas vollkommener erzehlen möge/was ich den Leuten dieß Orts zu communicirn vorhabens; welches dann nichts anders ist/als ein Exempel zu weisen/wie aus einen geringen Füncklein allgemach ein groß Feur werde/wann man die Vorsichtigkeit nicht beobachtet. 52
Der Historiker Grimmelshausen erinnert an die Erfordernisse der Gattung Historia: Der Geschichtsschreiber hat sich mit Rücksicht auf die curiositas der Leser kurz zu fassen, darf wie gesagt nicht „viel dicentes“ machen und sein Ziel nicht aus den Augen verlieren. Nur in Ausnahmefällen erscheint es ihm sinnvoll, „vollkommener“ und das heißt „umständlicher“ zu erzählen, um einen speziellen Kommunikationszweck zu erreichen: in diesem Falle eine Traumvision zu einem Exempel auszubauen, das „fein Staffel weiß“ den Niedergang eines Verschwenders vor Augen stellt.
Es ist mithin angezeigt, zwischen einem engeren und einem weiteren Begriff von „Histori“ zu unterscheiden. Historien im engeren Sinne des Begriffs sind die vier historischen Erzählwerke. Historien im weiteren Sinne des Begriffs sind die simplicianischen Erzählwerke. Für letztere gilt das von Sorel übernommene Erzählprinzip der „Vollkommenheit“, obgleich immer in den von der augustinischen Geschichtstheologie gesetzten Grenzen. Für die historischen Erzählwerke im engeren Sinne ist „Vollkommenheit“ des Erzählens, d.h. das Verweilen bei Nebenhandlungen und deren Umständen, eher die Ausnahme; solche „Particulariteten“ können dann aber vom Ende her auf die dunklen Wege der göttlichen Vorsehung bezogen werden.
Der Erzähler Grimmelshausen hat beide Möglichkeiten der Histori erprobt, doch ist dem Meister des „vollkommenen“ simplicianischen Erzählens die Rolle des Historikers schwer gefallen, schon aufgrund seines Werdegangs, daß er nämlich, wie er mit Bedauern feststellt, „nichts studirt, sonder im Krieg uffgewachsen/und allda wie ein anderer grober Esel keine Wissenschafften/gefast habe“.53 Gelehrte Quellenwerke blieben dem Autodidakten verschlossen; er mußte sich mit meist älteren deutschsprachigen Geschichtswerken wie der Josephus-Übersetzung, den Chroniken von Johann Stumpf, Conrad Lycosthenes und Johann Ludwig Gottfried, den Nachschlagewerken von Georg Hornius, Peter Lauremberg und Valentin Leucht begnügen.54 Das erklärt seinen Zorn auf Philipp Zesen, aber auch seine Versuche, Unbildung zu kaschieren, wie z.B. das gelehrte lateinische Quellenverzeichnis zeigt, das er seiner Dietwalt-Histori vorangestellt hat;55 es ist unschwer als ein Auszug aus dem Quellenverzeichnis des Historikers Stumpf zu durchschauen, also als betrügerisches Spiel mit den Gesetzlichkeiten der Gattung, die er andererseits so sehr ernst nimmt. Gerade diese Historien hat er mit seinem vollen Namen gezeichnet.
I. Teil
„von Aenderung eins Staads“ – Kritik des politischen Handelns
1. Grimmelshausens politische Argumentation: Für und Wider den absolutistischen Staat
I
Die neuere historische Forschung zur Entstehung des frühmodernen Staates im 16. und 17. Jahrhundert hat auch die literaturwissenschaftliche Fragehaltung gegenüber literarischen Texten des 17. Jahrhunderts verändert.56 Es ist vor allem die Frage nach der (intendierten und tatsächlichen) Funktion der Literatur bei der Durchsetzung und inneren Festigung der absolutistischen Staatsordnung in den einzelnen deutschen Territorien und im Reich, die zu einer Überprüfung der Rahmenbedingungen bisheriger autorbezogener, form- und quellengeschichtlicher Interpretationen und Wertungen zwingt und den Blick stärker auf die argumentative Funktion auch der poetischen Texte in den zeitgeschichtlichen Zusammenhängen des 17. Jahrhunderts lenkt. Für wen, aber auch gegen wen ein Autor argumentiert hat, verspricht dabei als Leitfrage Einsichten in das bewegte literarische Leben dieses Jahrhunderts, in dem die Grundlagen des modernen, alle Lebensbereiche des Staatsbürgers reglementierenden, zentralistisch gelenkten Staates gelegt wurden und die Staatsloyalität des Künstlers und Poeten zu einem bis heute sich ständig verschärfenden Problem wurde.57
Von diesem pragmatischen Ansatz her gewinnt, methodisch gesehen, die „inhaltliche“ Seite von poetischen Texten neues Interesse: denn in ihr ist die politisch-zeitgeschichtliche Argumentation des jeweiligen Autors ja letztlich greifbar. Doch geht es dabei nicht um motiv- und stoffgeschichtliche Abhängigkeiten und Weiterentwicklungen, sondern eben um deren argumentative Funktion, wenngleich der bisher wenig beachtete Quellencharakter der staatstheoretischen und staatsrechtlichen Literatur gerade in diesem Zusammenhang zuvor zur Kenntnis zu nehmen ist.58
Grimmelshausens schriftstellerisches Werk scheint diesen Untersuchungsaspekt in besonderer Weise zu rechtfertigen. Weitläufiger und unkonventioneller als andere hat er sich mit Legitimationsproblemen absolutistischer Herrschaft und mit den aus dem Staatsumbau resultierenden moralischen Problemen von Herrscher, Funktionsträgern und Untertanen auseinandergesetzt. Grimmelshausen ist der Redaktor einer „Teutschen Politica, oder Regenten-Kunst“ (Teutscher Friedens-Raht, 1670);59 er ist der Verfasser eines antimachiavellistischen Traktats über die Staatsräson eines theologisch legitimierten „Politischen Regiments“ (Simplicianischer Zweyköpfiger Ratio Status, 1670);60 er hat sich nicht gescheut, zu tagespolitischen Ereignissen Stellung zu nehmen (Der stolze Melcher, 1672; Deß Wunderbarlichen Vogelnests Zweiter theil, 1675), und er hat im übrigen als gefürchteter „homo Satyricus in folio“ (Quirin Moscherosch)61 in allen seinen Schriften, gerade auch in seinen „Historien“, angefangen vom Joseph in Egypten (1666) über das simplicianische Werk bis hin zu Proximus und Lympida (1672) sich deutlich genug mit den grundsätzlichen Problemen des absolutistischen Herrschaftssystems auseinandergesetzt, dem er als ein durchaus nicht immer bequemer Funktionsträger auf der unteren Verwaltungsebene (Regimentssecretarius, Verwalter, Schultheiß) diente.62
Daß dieser auffällige Sachverhalt dennoch wenig beachtet worden ist und wenn, dann zu allzu durchsichtigen Vereinnahmungsversuchen,63 liegt nicht zuletzt an dem seit langem zu beobachtenden Interesse für das im 17. Jahrhundert übliche Allegoreseverfahren und dessen Konsequenzen für Grimmelshausens Textherstellung und das von ihm intendierte Textverstehen. Die Entdeckung entsprechender