Fürchte die Dunkelheit. Peter Gerdes

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Fürchte die Dunkelheit - Peter Gerdes

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Mergner nichts anmerken. »Die Liegezeit scheint jedoch annähernd die gleiche zu sein. Es darf also vermutet werden, dass beide Kinder etwa zur selben Zeit hier verscharrt wurden. Lange vor den beiden anderen.«

      »Irgendwelche Fundstücke bei den Leichen?«, fragte Kramer.

      »Nein«, sagte Mergner. »Dabei dürfen wir annehmen, dass auch nach dieser langen Zeit noch Gewebereste der Kleidung, auf jeden Fall aber Knöpfe, Gürtelschnallen oder ähnliches erhalten sein müssten. Die Kollegen sieben gerade alles noch einmal gründlich durch, aber bisher wurde nicht das Gerings­te gefunden. Also können wir davon ausgehen, dass die Leichen unbekleidet vergraben wurden.«

      KK Rosenbohm sog die Luft so scharf durch die Nase, dass es zischte. Stahnke beobachtete sie aus den Augenwinkeln: Keine weitere Regung erkennbar. Allerhand, Hut ab. Er selbst war nicht sicher, ob man es ihm nicht vielleicht doch ansehen konnte, wie verstört er war, jahrzehntelanger Routine zum Trotz.

      »Können Sie etwas zur Todesursache sagen?« Kramer blieb am Ball.

      »Beide Schädel und sämtliche Knochen sind intakt«, sagte Mergner und hob die Schultern. »Natürlich werden wir alles noch genauestens auf eventuelle Geschoss- und Einstichspuren hin untersuchen. Im Moment aber kommt alles in Betracht, sogar natürliche Todesursachen.«

      Da keine weiteren Fragen kamen, wandte sich der Arzt den beiden Planen zu seiner Rechten zu. Die kleinen Körper waren weit vollständiger erhalten. Man hatte sie abgedeckt, und Stahnke war dankbar dafür. Einen der beiden hatte er bereits gesehen, und er würde sich alle beide erneut ansehen müssen, in der Gerichtsmedizin, länger und genauer als ihm lieb war. Da war jede Pause wichtig.

      »Leiche Nummer drei ist männlich, Alter etwa sechs Jahre. Liegezeit vermutlich um die fünf Jahre. Ebenfalls vollständig unbekleidet. Der Körper weist zahlreiche Wunden auf, überwiegend Stiche und Schnitte, aber auch Verbrennungen. Teilweise vernarbt. Dieses Kind ist über einen längeren Zeitraum schwer misshandelt worden.« Mergner machte eine kleine Pause, aber niemand fragte. Alle waren vollauf damit beschäftigt, ihren Atem zu kontrollieren. Dann fuhr er fort: »Todesursache ist Erwürgen.«

      Stahnke versuchte sich Frerichs vorzustellen. Wie er aussah, wie er war. Was er dachte, was ihn bewegte. Er würde sich nachher bei der Vernehmung zusammenreißen müssen. Wir haben nicht zu hassen, rief er sich in Erinnerung, wir haben zu ermitteln und aufzuklären. Wir müssen uns beherrschen. Ob er das konnte, wenn es drauf ankam? Am besten, er nahm Kramer mit.

      »Leiche Nummer vier ist weiblich, die Liegezeit beträgt nur sechs bis acht Wochen.« Alle starrten auf die Plane, die sich über der Unterlage wölbte. Eine sehr kleine Wölbung.

      »Wie alt?«, hörte Stahnke sich fragen.

      »Ein Neugeborenes«, sagte Mergner. »Die Todesursache ist auch hier eindeutig.« Er blickte blinzelnd in die Runde: »Der Kopf wurde mit einer scharfen Klinge vom Rumpf getrennt.«

      Wieder zischte es in Stahnkes Ohren, aber diesmal war es nicht Maike Rosenbohms Atem, es war sein eigener. Ein Beben durchlief ihn vom Kopf bis zu den Fäusten.

      Fäuste?

      Manningas Hand lag auf seinem Oberarm, presste straff gespannte Muskeln. »Abregen, Stahnke«, murmelte der Kriminaldirektor. »Wir sind doch Profis. Ruhig bleiben. Wir haben den Kerl ja schon.«

      Stahnkes Mund fühlte sich wie eine Höhle aus Pergamentpapier an, in der ein klebriger Klumpen Zunge sinnlos umherrollte. Er brachte kein artikuliertes Wort heraus.

      »Sie bleiben hier, zusammen mit Kramer. Weitere Inaugenscheinnahme des Tatorts, Zeugeneinvernahme, Sie wissen ja. Ich fahre nach Leer und nehme mir mal den Frerichs vor.«

      Mit Verspätung nahm Stahnke wahr, dass Manninga mit ihm gesprochen hatte. »Was?«, stieß er hervor. »Sie?«

      Manninga war bereits außer Hörweite.

      Wieder eine Hand auf seinem Arm. Leichter, wenn auch kaum weniger fest. Kramer? Nein.

      »Ist doch besser so«, sagte Maike Rosenbohm leise. »Wir haben schließlich auch so genug zu tun. Außerdem wollten wir doch ins Krankenhaus, wissen Sie noch?«

      »Ja«, sagte Stahnke und nickte langsam. »Stimmt. Ist besser so.«

      7.

      Die Abendbrotzeit war bereits um, als sie im Borromäus-Hospital eintrafen und sich durchfragten. Marion Haak hatte ein Zweibettzimmer im Hochparterre der Inneren Abteilung für sich allein. Bauschend auswehende Vorhänge und leises Blätterrauschen zeigten an, dass die Balkontür geöffnet war. Nach einem hektischen Tag in der prallen Sonne empfanden Stahnke und seine Begleiterin die Luft im Krankenzimmer auf der Nordseite als angenehm kühl.

      Die junge Frau lag im Bett am Fenster und schien zu schlafen. Ihr Gesicht war abgewandt, ihr Kopf im dicken Kissen fast vergraben, so dass Stahnke zunächst nur einen wirren Schopf weizenblonder Haare sehen konnte. Das Abendbrot auf dem Nachttischchen schien unberührt; die Graubrotscheiben krümmten sich bereits, und unter der Abdeckfolie des Früchtequarks hatten sich Schwitzwassertröpfchen gebildet.

      Ratlos blieb der Hauptkommissar stehen. Seit dem Vormittag bis zu diesem Augenblick hatte er sich keinen Moment des Verschnaufens gegönnt. Jetzt, so unvermutet ausgebremst, traf ihn die Erschöpfung wie ein Rammbock. Seine Füße schmerzten, seine Beine begannen zu zittern, die Finger seiner schweißklebrigen Hände schienen sich kaum noch biegen zu lassen, und in seinem Kopf machte sich ein kaltes, ziehendes Gefühl breit. Er stützte sich auf das Fußteil des freien Krankenbetts, erspähte dann die kunststoffüberzogenen Besucherstühle an der Wand und setzte sich schlurfend in Bewegung. Der Gedanke, sich hinsetzen zu können, jetzt gleich, ein paar Minuten nur, entwickelte einen hypnotischen Sog.

      KK Rosenbohm schien dergleichen Anfechtungen nicht ausgesetzt zu sein. Sie schob sich an ihm vorbei, verstellte ihm den Weg zu den begehrten Stühlen und sagte: »Frau Haak? Könnten wir Sie bitte einen Augenblick sprechen?«

      Allzu tief konnte die junge Frau in dem grellweiß bezogenen Bett nicht geschlafen haben. Sie reagierte sofort, öffnete die Augen, hob leicht den Kopf, wandte sich ihnen zu und lächelte.

      So muss sich der Urknall angefühlt haben, dachte Stahnke, als heiße Partikelströme Welle um Welle seinen Körper durchdrangen, als Myriaden winziger, brennender Stiche, von denen er nicht genug bekommen konnte, seine Nervenbahnen entlangfegten. Das Zittern in Armen und Beinen verstärkte sich, das Epizentrum der brodelnden Beben aber verlagerte sich in seine Bauchregion. Als ihm der Schweiß aufs Neue ausbrach, wurde ihm schwindelig; da war der erste Ansturm fast schon vorbei, und sein Verstand setzte wieder ein. Die ersten Versuche einer Übersetzung des soeben Empfundenen aber scheiterten kläglich.

      Das Gesicht unter dem blonden Schopf war hübsch, war ebenmäßig, fein und glatt wie das einer Porzellanpuppe, aber das war es nicht. Der Körper war vom Oberbett vollständig verhüllt, gesprochen hatte die Frau noch kein einziges Wort, hatte noch nicht das Geringste von ihrem Wesen offenbart. Stahnke wusste durchaus um seine Empfänglichkeit für weibliche Reize, aber spätestens seit seiner Zeit mit Sina konnte er sich doch sicher sein, dass jugendliche Schönheit alleine ihn nicht aus den Socken haute. Also was?

      Dumme Frage. Es war der Blick.

      Ihre Augen hatten die Farbe von Sahnekaramellbonbons, irgendwo zwischen gold und braun und unbeschreiblich. Die Wärme, die sie ausstrahlten, floss in Schauern über ihn hinweg und durch ihn hindurch, tauchte ihn in ein duftendes Bad aus heißem Glücksgefühl, in dem er zergehen wollte

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