Baltrumer Bitter. Ulrike Barow

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Baltrumer Bitter - Ulrike Barow

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Die große Uhr gleich bei den Randdünen zeigte ihr, dass sie bis zu ihrer Verabredung mit Frank genügend Zeit hatte. Sie konnte nicht widerstehen. Der blaue Himmel, das Wasser, das sich um ihre Füße kräuselte – einfach einladend. Fröhlich querte sie den breiten, mit warmem Wasser gefüllten Priel, dann hatte sie den steilen Anstieg zur Sandbank erreicht. Auf allen vieren kletterte sie hinauf und war bald ganz und gar von nassem Sand bedeckt. Ein guter Grund, sich auf der anderen Seite den Sand von der Nordsee wieder abwaschen zu lassen. Plötzlich war sie glücklich. Frei und unbeschwert. Nichts war mehr von den Gedanken übrig, die sie eben noch geplagt hatten.

      *

      Frank Visser war sauer. Anstatt mit ihm die Insel zu erkunden, aalte sich seine Kollegin am Strand.

      Bei seinem Einstieg in die Firma vor gut vier Monaten hatte er spontan erkannt, dass diese Frau absolut in sein Beuteschema passte. Nicht nur ihr gepflegtes Äußeres, ihre dunkelbraunen, sportlich geschnittenen Haare und der offene Blick gefielen ihm, sondern auch das kleine Grübchen im Kinn, das erschien, sobald sie lachte. Von Anfang an hatte er die Art gemocht, wie sie Dinge anpackte, mit Kunden verhandelte. All das fand er perfekt. Der einzige Knackpunkt war ihre Freundin.

      Vor einiger Zeit hatte Wybrands sie schon einmal zu zweit losgeschickt, um einen Auftrag abzuwickeln. Klara hatte Frank dann in einer späten Stunde an der Hotelbar erzählt, dass Sonja zu ihrem Leben gehörte. Sie hatte ihn gebeten, Jan Wybrands zu verschweigen, dass sie eine Lebensgefährtin hatte. Sie war sich nicht sicher, wie ihr Chef darauf reagieren würde. Frank hatte es Klara versprochen.

      Trotzdem hatte er gehofft, dass dieser Inselauftrag sie einander etwas näherbringen würde. Besonders der Umstand, dass sie gemeinsam in dieser Wohnung übernachten mussten, hatte ihn vor Beginn der Reise mit großer Zuversicht erfüllt. Als er dann allerdings gesehen hatte, wie sie beim Eintreten mit hoffnungsvollem Blick das Sofa suchte, war sein Optimismus auf ein Minimum geschrumpft.

      Frank nahm seine Kamera aus der Reisetasche und ging ins alte Ostdorf. Hier gab es noch einige wenige Insulanerhäuser mit zur Windseite heruntergezogenen Dächern und kleinen Sprossenfenstern. Nautilus las er auf einem Schild an einem der Häuser. Neugierig blickte er durchs Fenster. Die Vielfalt der dort ausgestellten Muschelschalen und Schneckenhäuser erstaunte ihn. Nie hätte er gedacht, dass es diese Tiere in derart unter­schiedlichen Größen und Farben gab. Die mächtigste Muschelschale wies wohl einen Durchmesser von über einem Meter auf. Frank hatte bisher immer nur an den Inhalt von Miesmuscheln gedacht, schön mit Tomatensauce und Baguette, dazu ein trockener Weißwein.

      Er folgte einem schmalen Weg und fand sich kurz darauf am Rand einer hügeligen Dünenlandschaft wieder. Kein Mensch war zu sehen. Nur zwei Fasane scharrten unbeirrt von seiner Anwesenheit Würmer und kleine Insekten aus dem Moos, das die Dünen bedeckte. Frank schaute ihnen eine Weile zu, dann foto­grafierte er die beiden Insulanerhäuser, die abgerissen werden sollten. Er versuchte, sich an deren Platz das neue Objekt vorzustellen, von dem es bisher nur eine Zeichnung gab. Für ein mittelgroßes Hotel wäre genug Raum, aber für das, was sie planten, war ein größeres Grundstück dringend nötig. Allein das Schwimmbad mit den Räumen für das Wellness-Angebot würde jede Menge Platz brauchen.

      »Ich sage nur: Ein Wellness- und Sporthotel muss das werden. Das Schwimmbad: wettkampftauglich«, hatte sein Vater geschwärmt. »Mit allem, was ein Hochleistungssportler heutzutage braucht. Und dann an die richtigen Stellen ran und Werbung machen. Das bringt’s!« Das Motto dieses Mannes war nun einmal: Wenn schon, dann richtig. Dafür ging der durchaus schon mal über Leichen. Frank grinste. Na ja, der Ausdruck war wohl ein bisschen übertrieben. Aber dass er einen äußerst zielstrebigen Vater hatte, das hatte er bereits bei ihrem ersten Treffen erkannt.

      »Einen Vater gibt es nicht«, hatte seine Mutter mehr als zwanzig Jahre lang behauptet. Bis sie Frank vor gut einem halben Jahr die Wahrheit gesagt hatte. Kurz bevor sie gestorben war. Und man konnte von dem Mann halten, was man wollte: Als Frank bei Jan Wybrands auf der Matte gestanden hatte, mit dem abgebrochenen BWL-Studium, hatte der ihn sofort aufgenommen. In seine Familie und in die Firma.

      »Wir hängen das nicht an die große Glocke«, hatte sein Vater gesagt. »Verdien du dir erst mal Anerkennung bei mir und den Angestellten, dann sehen wir weiter.«

      Frank hatte zugestimmt, und so wusste auch Klara nicht, dass er der Sohn des alten Wybrands war. Sie würde noch früh genug erfahren, dass die Position als rechte Hand des Chefs vergeben war.

      Einen Pächter hatte sein Vater für das Luxusobjekt auch schon, obwohl es im Moment nur auf dem Papier und in seinem Kopf existierte. Selbst die eher abgeschiedene Lage am Rande des Ostdorfes konnte ihn nicht abschrecken.

      Frank wusste, dass sein Vater nichts unversucht lassen würde, die Pläne umzusetzen. Das war spätestens klar geworden, als er hatte verlauten lassen, dass dann eben als besonderes »Bonbonchen« für die Gäste des neuen Hotels Elektrokarren angeschafft werden müssten. »Das ist genau das, was ich von euch erwarte. Dass ihr bei dem Bürgermeister reingeht, und wenn ihr wieder rauskommt, habt ihr die Unterstützung für die E-Karren-Sache in der Tasche. Klar? Denn wenn der blockiert, wird es ewig dauern, bis der Punkt bei einer Gemeinde­ratssitzung auf die Tagesordnung kommt.«

      Klar. Natürlich. Genau diese Vorgabe seines Vaters würde er erfüllen. Er! Dann musste nur noch die Unterschrift unter den Kaufvertrag. Aber sein Vater hatte nur abgewinkt. »Da mach dir man keine Gedanken drüber«, hatte der gesagt. »Das ist ein Klacks.«

      Frank schaute auf die Uhr. Es war Zeit für den Rückweg. Außerdem war ihm warm. Viel zu warm. Über die Hellerwiesen auf der Südseite der Insel kam kein Lüftchen. Wenn überhaupt, war es ab und zu der Hauch eines drückenden Landwindes, der ihm die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Sie liefen langsam an seiner Wange herunter und sammelten sich an seiner Hemdöffnung. Hektisch fummelte er in den Taschen seiner leichten Leinenhose, doch die waren leer. Kein Taschentuch weit und breit. Ärgerlich strich er sich mit dem Handrücken über die Stirn.

      Aufrecht hielt ihn einzig der Gedanke, dass sein Arbeitseifer bestimmt belohnt werden würde. Spätestens wenn er seinen Vater dezent darauf hinwies, dass er derjenige gewesen sei, der die Arbeit gemacht habe. Sollte er noch einen Abstecher ins – was stand da auf dem Hinweisschild? – Kluntje machen? Nein, es war einfach zu warm. Er würde in der Wohnung warten, bis seine Kollegin von ihrem Strandausflug zurück war.

      Als Frank auf das Grundstück der Steenkens einbog, hörte er eine leise Melodie. Neugierig schaute er über die niedrige Buchsbaumhecke in den Garten. Was er sah, verschlug ihm den Atem. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie eine so schöne Frau gesehen wie die, die es sich gerade auf der Liege bequem machte. Sie trug ein weißes, mit bunten Blumen bedrucktes T-Shirt und einen langen, dunkelblauen Leinenrock. Ihre bloßen Füße steckten in roten Riemchensandalen und ein schmaler, roter Schal, der um ihre Schulter geschlungen war, wehte leicht hin und her. Er hatte das Gefühl, die Zeit bliebe stehen. Frank wagte kaum, sich zu bewegen, in der Angst, das Bild würde zerplatzen wie eine Seifenblase. Aber das Bild blieb. Auch nachdem er einige Minuten fast reglos gestanden hatte, saß das wunderschöne Mädchen noch immer auf der Liege, schaukelte leicht mit dem Oberkörper und summte ein Lied.

      Ganz langsam nahm Frank Visser den Fotoapparat hoch, schaute durch den Sucher, konnte kaum glauben, was er sah, dann drückte er ab. Die Frau musste das leise metallische Klicken gehört haben. Sie lächelte ihn an und winkte.

      Vorsichtig machte er Schritt für Schritt auf sie zu, setzte sein nettestes Lächeln auf, immer noch in der Angst, das Bild könnte sich einfach in Luft auflösen. »Hallo, ich heiße Frank, und du? Wohnst du hier?«

      Die junge Frau blickte ihn fröhlich an, gab aber keine Antwort. Irritiert wartete er auf eine Reaktion, doch sie sagte nichts.

      »Wie heißt du?«, fragte er, plötzlich

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