„… dass die Welt zwischen den Liebenden verbrannt ist“. Richard A. Huthmacher
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу „… dass die Welt zwischen den Liebenden verbrannt ist“ - Richard A. Huthmacher страница 12
Nur langsam dämmerte ihm: Das kaleidoskopartige Geschehen, das sich in unvorstellbarer Verdichtung vor seinem inneren Auge abgespult hatte wie ein rasender Film, gab wieder, was geschehen war seit Marias unvermittelter Entlassung aus der Psychiatrie:
Reinhard brachte Maria – ein Bild des Jammers mit den grünlichen, stinkenden Verbanden, die ihre abgemagerten Beine umschlangen und die vor der Entlassung zu wechseln man sich nicht die Mühe gemacht hatte, da man Maria nicht schnell genug loswerden konnte, weil vertuschen wollte, dass die stümperhaften Psychiater mit ihren rudimentären Medizin-Kenntnissen ihr beim Wechseln der Verbände eine schwere nosokomiale Infektion gesetzt hatten –, Reinhard brachte Maria in eine Klinik, die auf Verbrennungen spezialisiert ist, weil er dort besondere Fachkenntnisse in der Behandlung großflächig infizierter Wunden vermutete.
Nur widerwillig nahm man Maria auf; das Triumvirat (genauer: Trium-vir-mulier-at) Prof. Neumalklug, Dr. Großkotz und Frau Prof. Tausendschön hatte sie schon angekündigt und zweifelsohne in schillernden Farben nur das Beste über sie berichtet.
Auch die „Spezialisten“ bekamen die Infektion nicht unter Kontrolle; um ein Abfaulen der Beine zu verhindern resp. so lange wie möglich hinauszuzögern, mussten mehrmals wöchentlich die Verbände, die mit der Haut darunter verklebt waren und immer wieder neu verklebten, gewechselt werden, so dass man Maria jedes Mal häutete wie ein Indianer sein Opfer beim Skalpieren.
Die Schmerzen Marias bei dieser Prozedur waren – verständlicherweise – so groß, dass die Verbandswechsel in Narkose vorgenommen wurden.
Zwar bot Reinhard wiederholt an, vielmehr bedrängte er die Kollegen geradezu, ihm, anstelle der Narkose, jeweils eine Hypnose Marias zu gestatten. Die Kollegen Schulmediziner indes hatten mit solch Firlefanz nichts am Hut, verbaten sich den Unsinn und verpassten Maria in zwei Monaten über dreißig Narkosen.
Welch kluger Kopf Maria doch war, dass sie, trotz solch massiver Eingriffe, bis zu ihrem Tod nichts von ihrer intellektuellen Brillanz verlor, obwohl ein solches Procedere wahrscheinlich das Gehirn eines Elefanten zu zerstören vermag.
Im Übrigen erlaubte man Reinhard dann in der Palliativstation, Hypnosen durchzuführen. Mit dem Resultat, dass nicht einmal die Gabe eines Schmerzmittels, geschweige denn eine Narkose bei den Verbandswechseln erforderlich war.
Infolge der fürchterlichen Erlebnisse und auch, weil Reinhard Maria in der Klinik nicht behandeln durfte, erlitt diese schließlich ein Rezidiv ihrer Krebserkrankung. Mag dies verwundern?
Irgendwann jedenfalls war Marias Lebenswille gebrochen, waren ihre körpereigenen Abwehrkräfte erschöpft, fing sie an, sich zu verbrauchen wie eine erlöschende Kerze.
Als nun die Krebserkrankung wieder aufbrach, fühlte man sich auch in der Unfall- und Verbrennungsklinik nicht mehr zuständig für Maria. Weil ihre Prognose zunehmend infaust wurde, wollte man sie loswerden – in Zeiten pauschalierter Vergütung auch wegen der immensen Kosten, die sie verursachte.
Der Krankenkasse war dies Wasser auf ihre Mühle, denn die Tagessätze einer Palliativstation, auf die Maria abgeschoben werden sollte, sind ganz erheblich niedriger als die einer Spezialklinik.
Folglich reduzierte man die Versorgung Marias auf das absolute Minimum bzw. das, was verantwortungslose Ärzte für eine Minimalversorgung halten.
Weder kümmerte man sich darum, dass Maria aß und trank, noch gab man ihr, wenigstens, Infusionen zur Flüssigkeitszufuhr oder, gar, eine parenterale Ernährung, damit sie nicht verhungere. An (teure) Bluttransfusionen, damit Maria nicht ersticke, war erst recht nicht zu denken.
„Lassen Sie doch zu, dass Sie sterben“, sagte der nassforsche Oberarzt, „sie werden ohnehin nie mehr laufen können, das ist doch kein Leben.“
Damit sich nur ja kein Widerstand rege, wurde Maria klammheimlich – ohne dass man die Angehörigen zuvor informiert hätte – in die sechzig Kilometer entfernte Palliativstation einer religionsgebundenen Klinik in München verbracht.
Dort starb sie kurze Zeit später.
„Nicht schießen, nicht schießen“ waren die letzten Worte, die Reinhard von ihr hörte. „Nicht schießen, nicht schießen.“
OFFENSICHTLICHES, ALLZUOFFENSICHTLICHES
VORBEMERKUNG
(Fiktive) Briefpartnerin des mehrteiligen Briefromans „Offensichtliches, Allzuoffensichtliches“, einer Essay-Sammlung ebenso zu Themen der Zeit wie zum Mensch-Sein allgemein, ist die verstorbene – will meinen: ermordete – Frau des Autors (s. hierzu den Tatsachen- und Enthüllungsroman „Dein Tod war nicht umsonst“):
Der Briefwechsel spiegelt eine Zeitreise durch mehr als ein halbes Jahrhundert Geschichte wider, von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart. Er reflektiert Ereignisse, welche die beiden erlebt haben, und beschreibt Zusammenhänge, die für sie von Belang waren – auch wenn angeführte Ereignisse, benannte Zusammenhänge und aufgedeckte Hintergründe möglicherweise für andere Zeitzeugen bedeutungslos sind.
Derart entsteht ein Genre, das sich zwischen Briefroman und Tagebuch, zwischen analytischen Erörterungen und höchstpersönlichen Gedanken und Gefühlen bewegt. Es entsteht ein Zeitgemälde, das (allzu) Offensichtliches hinterfragt und bezweifelt und dadurch vermeintlich Selbstverständliches als ganz und gar nicht selbstverständlich begreift und anschaulich macht.
Ein Zeitgemälde, das durchaus subjektiv ist, mithin bis zu einem gewissen Grad auch willkürlich. Ein Zeitgemälde indes, das nicht zuvorderst beschreibt, was geschah, vielmehr erforscht, warum nur das Unsägliche, das in der Tat geschah, leider Gottes(?), jedenfalls durch Menschen und von Menschen Hand geschah.
„Offensichtliches, Allzuoffensichtliches (Untertitel: Eine deutsche Geschichte. Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart. Höchstpersönliche Betrachtungen zu gesellschaftlichen Ereignissen und Entwicklungen. Zum Menschsein und dazu, was den Menschen ausmacht) ist den Irrenden und Wirrenden gewidmet, die sich redlich mühen, ein menschenwürdiges Leben zu führen auf dieser – an und für sich – so wunderbaren Welt. Und gleichwohl scheitern. An Armut und Not, an Lüge und Unterdrückung, an physischem und psychischem Elend. Die nicht gottgewollt scheitern, sondern durch anderer Menschen Hand, nicht schicksalhaft und unvermeidbar, sondern deshalb, weil Menschen Menschen, wissentlich und willentlich, Unsägliches antun.
Wie in Nietzsches Aphorismen „Menschliches, Allzumenschliches“ soll auch in „Offensichtliches, Allzuoffensichtliches“ von einer „Kultur des freien Geistes“ die Rede sein. Von einer Kultur des Denkens und Fühlens, die Offensichtliches, allzu Offensichtliches hinterfragt, durchdenkt, bezweifelt. Die das vermeintlich Selbstverständliche als ganz und gar nicht selbstverständlich erfasst, begreift und anschaulich macht. Dazu bedient sich der Autor unterschiedlicher Disziplinen von den Geistes- über die Human- bis zu den Naturwissenschaften; mit ihrer Hilfe sollen verschiedenste Aspekte menschlichen Denkens, Fühlens und Seins ergründet werden.
Die äußere Form des Buches ist dem Briefwechsel des Autors mit seiner verstorbenen (will heißen: mit seiner ermordeten) Frau geschuldet – einem Briefwechsel geschuldet, wie er stattgefunden hat oder derart hätte stattfinden können, einem Gedankenaustausch, der zweier Menschen Zeit von der gesellschaftlichen Erstarrung der Nachkriegszeit über die hoffnungsfrohen Erwartungen der Siebziger-Jahre bis zum Überwachungsstaat der Gegenwart widerspiegelt.
Geschuldet