Wahrheit und Falschheit. Die (d.i. Mira Alfassa) Mutter
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Trotzdem bleibt die Frage bestehen, warum all dies notwendig war – diese rohen Anfänge, der lange, stürmische Weg, warum dieser hohe, kaum zu leistende Preis, warum all das Böse und das Leid? Was hingegen das Wie des Sturzes in die Unwissenheit im Gegensatz zu dem Warum anbelangt, die wirkende Ursache, so findet man in aller spirituellen Erfahrung eine wesenhafte Übereinstimmung. Die Spaltung, die Trennung, das Prinzip der Absonderung von jenem Bleibenden und Einen waren die Ursache, und weil das Ego sich in der Welt festsetzte und sein Begehren, seine Selbst-Anmaßung hervorkehrt und diese der Einung mit dem Göttlichen sowie dem Einssein mit dem Ganzen vorzieht; statt der einen höchsten Kraft, der höchsten Weisheit, statt dem einen höchsten Licht, welche die Harmonie aller Kräfte bestimmen, konnte sich jede Idee und Kraft und Form der Dinge so weit wie möglich in der Vielzahl unendlicher Möglichkeiten durch ihren eigenen Willen – und in der Folge unweigerlich durch den Widerstreit mit anderen – entwickeln. Die Spaltung, das Ego, ein unvollkommenes Bewusstsein, das Suchen und Kämpfen einer auf sich bedachten Selbstanmaßung sind die wirkende Ursache von Leid und Unwissenheit dieser Welt. Sobald die verschiedenen Bewusstseinsformen sich von dem einen Bewusstsein absonderten, fielen sie notgedrungen in die Unwissenheit, und die letzte Konsequenz der Unwissenheit war die Nichtbewusstheit. Aus einer dunklen, ungeheuerlichen Nichtbewusstheit erhebt sich diese stoffliche Welt und aus ihr eine Seele, die sich über die Evolution zur Bewusstheit durchringt, angezogen von dem verborgenen Licht und emporstrebend, zwar blind noch, hin zur verlorenen Gottheit, aus der sie stammt.
Doch warum geschah all dies überhaupt? Eine weitverbreitete Art, diese Frage zu stellen und zu beantworten, sollte von Anfang an ausgeschieden werden, – nämlich die typisch menschliche Art: das ethische Aufbegehren, die Missbilligung, der emotionale Aufschrei. Denn wir haben es nicht, wie einige Religionen vermuten, mit einer überkosmischen, willkürlichen, persönlichen Gottheit zu tun, die selber völlig unbeteiligt an dem Sturz ist und die das Böse und das Leid jenen Geschöpfen auferlegte, die sie in einer Laune durch ihr fiat erschuf. Das Göttliche ist, wie wir wissen, ein Unendliches Wesen, in dessen unendliche Manifestation diese Dinge gerieten, – es ist das Göttliche selbst, das hier ist, hinter uns, das die Manifestation durchdringt und die Welt mit seinem Einssein stützt. Es ist das Göttliche in uns, das selber die Bürde des Sturzes und seine dunkle Folge trägt. Und wenn Es für immer in seinem vollkommenen Licht, seiner Seligkeit, seinem Frieden über allem steht, dann ist Es ebenfalls hier. Sein Licht, seine, Seligkeit und sein Frieden stützen insgeheim alles auf Erden; und in uns selber wohnt ein Geist, eine zentrale Gegenwart, – größer als unsere Persönlichkeiten der Oberfläche – die, wie das höchste Göttliche selbst vom Schicksal, das sie erduldet, nicht überwältigt wird. Wenn wir dieses Göttliche in uns entdecken, wenn wir uns selbst als diesen Geist erkennen, der von gleicher Essenz und gleichem Wesen wie das Göttliche ist, dann haben wir unsere Pforte der Befreiung gefunden und in ihr vermögen wir, inmitten der Disharmonien der Welt, wir selbst zu sein, – leuchtend, heiter und frei. Dies ist die altersgraue Erkenntnis spiritueller Erfahrung.
Und dennoch, was ist der Sinn, was der Ursprung dieser Disharmonie – warum entstand diese Spaltung, dieses Ego, diese Welt einer leidvollen Entfaltung? Warum mussten das Böse und der Kummer in das göttliche Gute eindringen, in die Glückseligkeit, in den Frieden? Es ist schwierig, dies dem menschlichen Verstand auf seiner Ebene zu beantworten, denn das Bewusstsein, dem der Ursprung dieses Phänomens angehört – vor dem es gleichsam in überintellektueller Erkenntnis gerechtfertigt steht –, ist ein kosmisches und nicht das individualisierte menschliche Erkenntnisvermögen; es sieht in weitere Räume, hat eine andere Schau, ein anderes Wissen, andere Bewusstseinsbegriffe als der menschliche Verstand und das menschliche Gefühl. Dem menschlichen Mental könnte man vielleicht derart antworten: das Unendliche ist in sich zwar frei von diesen Störungen, doch mit dem Beginn der Manifestation begann ebenfalls die unendliche Möglichkeit; und unter den unendlichen Möglichkeiten, die zu verwirklichen Aufgabe der universalen Manifestation ist, war die Verneinung ganz offensichtlich eine Möglichkeit, jene scheinbar so wirkungsvolle Verneinung der Macht, des Lichts, des Friedens, der Glückseligkeit mit all ihren Folgen. Auf die Frage, warum diese Möglichkeit angenommen wurde, lautet die Antwort des menschlichen Verstandes, die der Kosmischen Wahrheit am nächsten kommt, folgendermaßen: in den Beziehungen oder im Übergang des Einen Göttlichen zum Göttlichen in den Vielen wurde diese unheilvolle Möglichkeit an einem bestimmten Punkt zur Unvermeidlichkeit. Und einmal vorhanden, übt sie auf die Seele, welche in die sich entfaltende Manifestation herabkommt, eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, die diese Unvermeidbarkeit hervorruft, – eine Anziehung, die in menschlichen Begriffen auf der Erd-Ebene als Ruf des Unbekannten gedeutet werden kann, als die Freude an der Gefahr, an der Schwierigkeit, am Abenteuer, als Wille, das Unmögliche zu versuchen und das Unvorhersehbare zu verwirklichen, als Wille, das Neue und Unerschaffene mit dem eigenen Selbst und Leben als Stoff zu erschaffen, die Faszination der Widersprüche und ihre schwierige Harmonisierung. Diese Dinge, übertragen auf ein anderes überphysisches, übermenschliches Bewusstsein, höher und weiter als das mentale, waren die Versuchung, die zum Fall führte. Denn für das ursprüngliche Lichtwesen, das im Begriff war, herabzukommen, gab es nur ein Unbekanntes, die Tiefe des Abgrunds und die Möglichkeiten des Göttlichen in der Unwissenheit und Nichtbewusstheit. Andererseits geht vom Göttlichen Einssein eine unendliche Billigung aus, mitleidsvoll, zustimmend, hilfreich, ein höchstes Wissen, dass all dies zu geschehen habe, dass das einmal Erschienene ausgearbeitet werden müsse, dass sein Vorhandensein in gewisser Weise Teil einer unermesslichen, unendlichen Weisheit sei, dass der Sturz in die Nacht zwar unvermeidlich war, doch das Auftauchen in einen neuen, noch nie dagewesenen Tag ebenfalls gewiss sei und allein auf diese Weise eine bestimmte Manifestation der Höchsten Wahrheit bewirkt werden könne – nämlich durch Ausarbeitung seiner formgewordenen Gegensätze als Ausgangspunkt der Evolution und als Voraussetzung eines umwandelnden Neu-Auftauchens. In dieser Billigung war ebenfalls die Bereitschaft zum großen Opfer mit eingeschlossen, die Herabkunft des Göttlichen selbst in diese Nichtbewusstheit, damit es die Bürde der Unwissenheit und ihre Folgen auf sich nehme, damit es als Avatar und Vibhuti vermittle und unter dem zweifachen Zeichen des Kreuzes und des Sieges der Erfüllung und Befreiung entgegenschreite. Ist dies eine zu phantasievolle Darlegung einer nicht auszudrückenden Wahrheit? Doch wie vermöchte man, ohne Gleichnisse zu gebrauchen, dem Verstand ein Mysterium deuten, das weit jenseits seiner selbst liegt? Erst wenn man die Schranke der begrenzten Intelligenz überschritten und die kosmische Erfahrung, das kosmische Wissen geteilt hat, welche die Dinge in ihrem Einssein sehen, nehmen die höchsten Realitäten hinter diesen Gleichnissen – Gleichnisse, die mit der Wirklichkeit der Erde übereinstimmen – ihre göttlichen Formen an und werden als einfach und natürlich empfunden und als essentiell in den Dingen enthalten. Allein indem man in dieses größere Bewusstsein eintritt, vermag man die Unausweichlichkeit seiner Materialisierung und ihres Zieles zu erkennen.
Dies ist in der Tat nur die Wahrheit der Manifestation, wie sie sich dem Bewusstsein an der Grenzlinie zwischen der Ewigkeit und dem Herabstieg in die Zeit darstellt, wo die Beziehung zwischen dem Einen und den Vielen in der Evolution selbstbestimmt ist, ein Bereich, in dem alles Künftige enthalten, doch noch nicht wirksam ist. Doch das befreite Bewusstsein kann sich höher erheben, dorthin, wo das Problem nicht länger besteht, und es von dort im Licht einer höchsten Einheit sehen, in der alles in der selbst-tätigen, selbst-seienden Wahrheit der Dinge vorherbestimmt ist und gerechtfertigt steht vor einem absoluten Bewusstsein, vor einer absoluten Weisheit einem absoluten Entzücken, die sich hinter der gesamten Schöpfung und Nicht-Schöpfung befinden; sowohl Bejahung als auch Verneinung werden dort von jener unsagbaren Realität her gesehen, die diese befreit und harmonisiert. Doch dieses Wissen ist dem menschlichen Mental nicht deutlich zu machen, seine Lichtsprache ist zu unlesbar, das Licht selbst ist zu hell für ein Bewusstsein, das an die Schwere und Dunkelheit des kosmischen Rätsels gewöhnt und darin verstrickt ist, als dass es dem Faden zu folgen oder das Geheimnis zu erkennen vermöchte.