Die Wiege des Windes. Ulrich Hefner
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Читать онлайн книгу Die Wiege des Windes - Ulrich Hefner страница 6
»Findet ihn!«, sagte der Kahle, und beendete das Gespräch.
*
Der dritte Wagen, den Larsen auf der Landstraße von Norddeich in die Westermarsch anzuhalten versuchte, war der Milchlaster. Der Fahrer nahm ihn mit nach Greetsiel. An der Straße nach Pewsum ließ er Larsen aussteigen. Es war kurz nach acht und die Dämmerung erhellte langsam den Himmel, als Larsen den Weg in das malerische Dorf einschlug.
Hier draußen war der Wind stärker als in Norden. Larsen zog den Reißverschluss seiner Jacke höher. Ob Corde schon auf dem Kutter war?
Als er über den leeren Parkplatz ging, auf dem sich im Sommer Wagen an Wagen reihte, fielen die ersten Schneeflocken aus den grauen Wolken. Sein Freund Töngen hatte also doch Recht behalten. Obwohl dessen Gehirn vom vielen Bier, den Kurzen und den Joints bestimmt schon zerfressen war, hatte er noch immer ein Gespür für das Wetter. Damals, als sie in dem kleinen, altersschwachen Boot zwischen den Sandbänken herumgefahren waren und die pelzigen grauen Körper gezählt hatten, die leblos im feuchten Sand lagen, hatte er immer vorausgesagt, wenn das Wetter umschlug. Nur einmal waren sie in einen Sturm geraten. Das war im Nordland gewesen und Töngen vollgekifft wie ein Bus jamaikanischer Reggae-Musiker. Doch sie hatten überlebt. Überlebt, um die Zahl der toten Körper dieses Tages ins Forschungszentrum zu melden. Und wofür?
Er hatte gedacht, dass es besser werde, wenn Esser den Chefposten der Naturschutzbehörde übernehmen würde. Doch es blieb alles beim Alten. Die Schutzzonenverordnung war ein stumpfes Schwert. Noch immer warfen die Kapitäne ihren Unrat über Bord oder spülten ihre Tanks mit Nordseewasser aus, um es voller Öl und Schmiere wieder zurück ins Meer zu pumpen. Worte, nichts als Worte. Und er hatte für diese Farce sein Leben und seine Gesundheit riskiert. Nie wieder würde er so blauäugig sein.
Larsen ging über die Brücke und bog in den Weg zum Hafen ein. Der Schneefall wurde stärker. Die weißen Flocken tanzten wild im Wind. Hinter der Mauer tauchten die Masten der Kutter auf, die an der Mole vertäut lagen. Die Molly schaukelte friedlich im seichten Auf und Ab des Hafenbeckens. Corde war nicht hinausgefahren. Larsen atmete auf.
Töngens Worte kamen ihm noch einmal in den Sinn. Container mit bunten Träumen. Vielleicht lag da draußen wirklich irgendetwas auf dem Grund des Meeres. Wertvoll musste es sein, sonst würde sich der Aufwand nicht lohnen. Zumindest musste es etwas sein, das man nicht gerne dem Zoll offenbarte. Drogen, Diamanten für Rotterdam, Gold, Falschgeld, radioaktives Material für irgendwelche arabische Extremisten. Vielleicht war die Ladung gar nicht für Deutschland bestimmt. Zwar lag die Stelle, an der er das rote Schiff ausgemacht hatte, im Roten Sand, aber immer noch außerhalb der Drei-Meilen-Zone und abseits der viel befahrenen Schifffahrtsrouten.
Larsen blieb an der Mauer stehen. Von Corde keine Spur. Aber der würde bestimmt noch kommen. Er war jeden Tag auf seinem Kutter, selbst wenn er nicht hinausfuhr. Es gab immer jemanden hier, mit dem er reden konnte. Anders als in der Abgeschiedenheit seines Gehöftes.
Larsen ging auf die Treppe zum Anleger zu.
»Da bist du ja endlich!«, ertönte eine Stimme hinter ihm.
Die Worte trafen ihn wie ein Peitschenhieb. Langsam drehte sich Larsen um. Sein Gesicht war starr vor Schrecken.
»Eine schöne Überraschung«, sagte der blasse junge Mann, der sich wie ein Schatten von der roten Hauswand gelöst hatte. »Du dachtest wohl, ich finde dich nicht?«
Larsen schluckte seine Angst herunter, trotzdem klang seine Stimme belegt. »Du! Ich habe nicht …«
»Dienstag war Zahltag«, fiel ihm der andere ins Wort. »Und jetzt steht schon das Wochenende vor der Tür. Ich will mein Geld.«
»Ich hatte Probleme. Ich brauch noch etwas Zeit.«
Der Blasse baute sich breitbeinig vor ihm auf. »Zeit? Noch einmal eine Woche?«
Larsen nickte.
Die Faust traf ihn nur Millimeter unterhalb der Nase auf der Oberlippe. Trotz des lauten Klatschens hörte Larsen ein Knirschen aus seinem Mund. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn. Das Wasser schoss ihm in die Augen und fast gleichzeitig schmeckte er das Blut, das ihm über die Zunge rann. Dann schlug er die Hände vors Gesicht.
»Heute bezahlst du, Larsen!«, sagte der andere.
Larsen spuckte den abgebrochenen Teil seines Schneidezahnes in die Wiese. Vom Schmerz war er immer noch benommen.
*
Der frostige November ging und ein nasskalter und trüber Dezember hielt Einzug. Dennoch wurden die Schaufenster der Läden von einem hellen Glanz erfasst, Nikoläuse und Weihnachtsmänner lösten die herbstlichen Drachendekorationen ab und das Jahr trieb unaufhaltsam auf das Weihnachtsfest zu.
3
Der Postbote trug wie jeden Werktag eine große, gelbe Kiste durch die Drehtür des gläsernen Bürohauses am Theodor-Tantzen-Platz. Heute etwas schneller als sonst, denn es goss in Strömen. Über das Wochenende hatte eine milde Brise die Temperaturen auf zwei Grad Plus ansteigen lassen. Glatteis und eine Serie von Verkehrsunfällen in der vergangenen Nacht waren die Folge gewesen. Nun spülte der Regen die grauen Schneehaufen durch die Straßen. Die Kanalisation wurde von den Wassermassen überfordert und überall verteilten sich riesige Lachen in den Asphalttälern der Stadt.
»Moin!«, rief ihm der Pförtner hinter seinem Tresen zu. »Sauwetter, was?«
Der Postbote nickte, eilte den dunklen Gang entlang und verschwand hinter einer Glastür mit der Aufschrift Poststelle.
»Guten Morgen«, grüßte die blonde junge Frau ihn freundlich. Ihre dunkelhaarige Kollegin saß hinter ihrem Schreibtisch und leerte einen feuchten Karton auf die Tischplatte.
»Weiß nicht, was an dem Morgen gut sein soll«, knurrte der Postbote. »Draußen ist die Hölle los. Überall kracht es. Auf der Hindenburgstraße ist ein Stau bis raus nach Wechloy. Ein Laster ist gegen drei geparkte Autos gerutscht. Ich musste fast eine Stunde warten.«
Die ältere Kollegin schaute auf die Wanduhr über der Tür. Es war kurz nach neun. »Stimmt, du bist spät dran.«
»Spät ist gar kein Ausdruck. Heute wird’s mindestens drei, bis ich überall durch bin. Dabei habe ich zu Hause noch so viel zu tun.« Der Postbote lächelte verschwörerisch. »Das Kinderzimmer ist immer noch nicht fertig.«
»Wann ist es denn so weit?«, fragte die Blonde.
»Ich hoffe, dass die beiden bis Mittwoch nach Hause dürfen.« Der Postbeamte nahm seine gelbe Kiste vom Tresen. »Ich freu mich so auf meinen Sohn, ich kann’s kaum erwarten.«
»Mal sehen, was du sagst, wenn dich der Kleine mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf schreit«, unkte sie.
»Na hör mal, der schreit nicht. Der geht nach mir und weiß, was sich gehört.«
»Ähhh … – was ist denn das für eine Schweinerei!« Die schwarzhaarige Kollegin sprang auf. Sie rieb sich die Hände und blickte voller Ekel auf den großen, grauen