Die Wiege des Windes. Ulrich Hefner
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Читать онлайн книгу Die Wiege des Windes - Ulrich Hefner страница 10
Er stützte sich auf das Becken und schaute in den Spiegel. Er sah schrecklich aus. Vielleicht war es besser, die beiden Nutten einfach an die Luft zu setzen. Seine Stimmung war sowieso auf den Nullpunkt abgesackt. Er wandte sich zur Tür. Doch dann überlegte er es sich anders. Einsamkeit konnte er jetzt am wenigsten brauchen. Er drehte den Wasserhahn auf und ließ das kalte Wasser über seine Hände rinnen. Schließlich hielt er seinen Kopf unter den Wasserstrahl.
5
Trevisan lag quer im Doppelbett. Die Decke war verrutscht und sein Körper entblößt. Er schnarchte leise. Der grelle Ton des Telefons zerschnitt die morgendliche Stille. Trevisan öffnete die Augen. Schlaftrunken suchte er nach der Nachttischlampe. Es dauerte eine Weile, bis er den Schalter fand. Sein Blick streifte den Radiowecker. Es war kurz nach sieben Uhr. Erwartungsvoll folgte er den Tonintervallen, doch er fand den kleinen schwarzen Handapparat nicht und fluchte. Endlich entdeckte er das Mobilteil in dem kleinen Graben, der die beiden Matratzen voneinander trennte. Mit zitternden Fingern griff er danach. Oh, Gott, dachte er, lass es jetzt bloß nicht aufhören.
Er drückte mit fahrigen Fingern auf die kleine grüne Taste. Noch bevor sich der Teilnehmer meldete, raunte er ein fragendes »Paula?« in das Mikro.
»Bitte?«, drang die Stimme eines Mannes aus dem Lautsprecher. »Martin, bist du es?«
Trevisan schluckte. »Wer denn sonst. Bist du das, Johannes?« Sein Kopf schmerzte, als ob eine Horde Hummeln darin ein Wettfliegen veranstaltete.
»Ja. Ich habe eine schlechte Nachricht. Draußen im Hafen treibt eine Leiche und wir beide haben Bereitschaft. Wir treffen uns in einer halben Stunde im Büro.«
Johannes Hagemann gehörte schon seit einer Ewigkeit zum 1. Fachkommissariat. Nach dem Unfalltod von Lutger Bornemann oblag ihm als Ältesten die Leitung, bis Bornemanns Nachfolger bestimmt war. Hagemann trieb es trotz seiner achtundfünfzig Jahre noch immer auf die Straße. Einen Posten im Innendienst hatte er nie angestrebt. »Weißt du, ich halte es wie die alten Cowboys, ich will auch in meinen Stiefeln sterben«, hatte er immer gesagt, wenn man ihn fragte, warum er sich in seinem Alter den Stress des Ermittlungsdienstes antat. Wie ernst dieser lockere Spruch gemeint war, hatte damals niemand geahnt. Doch seit ein paar Monaten war es traurige Gewissheit. Johannes hatte Krebs. Unheilbar. Alle Versuche der Kollegen ihn zu schonen hatte er abgelehnt. Er wollte nicht zu Hause oder an einem Schreibtisch in der Direktion auf sein Ende warten. Er gehörte noch immer zum Team des ersten Fachkommissariats.
Und das war gut so, denn üppig war die Personalsituation in diesen Tagen nicht. Neben Johannes Hagemann gab es nur noch den kauzigen Dietmar Petermann und Markus Sauter, der sich zu Höherem berufen fühlte und die Aufnahmeprüfung für das Studium an der Polizeihochschule bestanden hatte. Spätestens im Februar würde der seine Koffer packen. Zwar hatte Kriminalrat Beck, der Leiter der Kriminalpolizei, Besserung in Aussicht gestellt, doch den Termin für Zuversetzungen hatte er wie immer offen gelassen. »Sie müssen jetzt erst einmal so zurechtkommen.«
Also blieb Trevisan nichts übrig, als sich aus dem Bett zu erheben, obwohl er sich am liebsten krank gemeldet hätte. In der Küche schaltete er den Wasserkocher ein, ohne einen starken Kaffee würde er den Vormittag nicht überstehen. Dann verschwand er ins Bad. Eine halbe Stunde, hatte Johannes gesagt. Als Trevisan in den Spiegel schaute, wusste er, dass auch eine oder zwei Stunden nicht reichen würden, um aus ihm wieder einen ansehnlichen Menschen zu machen. Seine dunkelblonden Haare standen wirr zu Berge und seine faltige Haut hatte eine Farbe wie vergilbtes Papier. Er stieg unter die Dusche. Das eiskalte Wasser schmerzte auf seinem Rücken.
*
Rikes Heimfahrt hatte sich zu einer wahren Tortur entwickelt. Der Zug von Frankfurt war zwar fast planmäßig um 17.54 Uhr auf dem Bremer Hauptbahnhof angekommen, aber jetzt ärgerte sie sich darüber, dass sie ihre Euroscheckkarte zu Hause gelassen hatte. Welcher Busfahrer akzeptierte schon American Express? Zu allem Überfluss wusste sie ihren PIN-Code nicht mehr genau und brach nach dem zweiten Fehlversuch am Geldautomaten lieber den Vorgang ab. Sie konnte sich Codes nicht merken, deswegen schrieb sie die Zahlen meist als Telefonnummern oder kleines Zahlenrätsel auf. Doch ausgerechnet diesen Zettel hatte sie verloren.
Mit ihren fünfundzwanzig Mark kam sie mit dem Regionalzug bis nach Oldenburg und versuchte sich von dort aus als Anhalterin. An der Autobahnauffahrt hielt nach kurzer Zeit ein dänischer Laster, mit dem sie nach Wilhelmshaven fahren konnte. Obwohl Rike in Marienhafe, also quasi auf der gegenüberliegenden Seite der ostfriesischen Halbinsel, wohnte, war ihr damit erst einmal gedient. Larsen würde ihr schon von Wilhelmshaven aus weiterhelfen können. Hoffentlich war er überhaupt zu Hause und trieb sich nicht in den Spelunken oder bei Corde herum.
Sie stieg in der Peterstraße aus und ging zu Fuß in die Ahrstraße. Es war kurz nach neun Uhr, als sie auf die obere Klingel ohne Namensschild drückte. Es kam, wie sie befürchtet hatte: Niemand öffnete. Larsen lag entweder im Vollrausch oder zugekifft bis an die Oberkante in seiner Bude oder war wieder mal auf Achse. Nach dem siebten Versuch gab sie auf.
Sie hatte jetzt noch vier Mark und siebenunddreißig Pfennige in ihrer Geldbörse. Die Nacht war frostig kalt und weit und breit gab es keine Telefonzelle. Also machte sie sich wieder auf den Weg in Richtung City. Vor der Nordseepassage fand sie eine Zelle mit einem Münzapparat und telefonierte die Liste ihrer Bekannten durch, bis sie schließlich Maike erreichte. Maike wohnte in Schortens. Sie war Kindergärtnerin, alleinstehend und lesbisch, doch Rike hatte keine Berührungsängste. Das Terrain war schon vor Jahren abgesteckt worden. Maike war nicht begeistert, bei diesem Wetter und dazu am Heiligen Abend nach Wilhelmshaven fahren zu müssen. Doch schließlich stimmte sie zu.
Als Rike endlich in das warme Auto einstieg, begannen ihre gefrorenen Hände wild zu kribbeln.
»Sag mal, was ist denn in dich gefahren?«, fragte Maike. Die Begrüßung schenkte sie sich. »Was treibst du um diese Zeit in Wilhelmshaven?«
Rike rieb sich ihre kalten Finger. »Ich bin gerade aus Australien zurückgekommen und hatte nicht genug Geld für die Rückfahrt dabei.«
»Aus Australien? Ach, deswegen war Larsen bei mir.« Maike lächelte grimmig. »Ich hab mich fast erschrocken, als er vor mir stand. Das ist jetzt knapp drei Wochen her. Der Typ ist ja ganz schön runtergekommen. Bist du noch mit ihm zusammen?«
Rike starrte gedankenverloren durch die Windschutzscheibe. Die bleichen Häuserfassaden flogen im Scheinwerferlicht an ihr vorbei. »Wir hatten Streit. Was wollte er von dir?«
»Was schon. Er wollte, dass ich ihm vierhundert Mark borge. Er sei da an einer großen Sache dran. Aber ich habe ihn weggeschickt. Wenn du mich fragst, ist der ganz schön drauf.«
»Drauf …?«
»Der wirft Pillen ein, oder? Lass ihn sausen, der ist nichts für dich.«
»Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte Rike, als sie sah, dass sie auf der Straße nach Schortens waren.
»Zu mir, wohin sonst. Du glaubst doch nicht, dass ich dich jetzt nach Marienhafe fahre. Ich habe zwar Besuch, aber du kannst in der Küche auf der Eckbank schlafen, wenn es dich nicht stört.«
Rike verzog das Gesicht. »Kannst du mir zweihundert Mark borgen? Dann nehme ich mir ein Taxi.«
Maike lachte. »Mensch Mädchen, heute ist Heiligabend. Ich glaube nicht, dass du jetzt noch ein Taxi findest. Na gut, dann fahre ich dich halt in Gottes Namen rüber.«
Rike entspannte