Die Wiege des Windes. Ulrich Hefner
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Als Rike weit nach Mitternacht ihre gemütliche kleine Drei-Zimmer-Wohnung über der Immobilienvermittlung am Markt von Marienhafe betrat, konnte sie nur noch mühsam ihre Augen offen halten. Sie stellte ihren Koffer in den Flur, ging ins Badezimmer und knipste das Licht an. Schlaftrunken schaute sie in den Spiegel. Ihr Gesicht war weiß und sah aus wie ein faltiges Tuch. Sie drehte den Wasserhahn auf und temperierte den Wasserstrahl. Ein schaler Geschmack erfüllte ihren Mund. Sie griff nach der Zahncreme im Regalschrank. Plötzlich stutzte sie. Der blaue Plastikbecher mit der Zahnbürste stand nicht am gewohnten Platz. Er war in die Ecke verschoben. Schon mehr als hundert Mal hatte sie in der Vergangenheit Krach mit Larsen gehabt, weil er nie etwas an seinen Platz zurückstellte und man ihm ständig hinterherräumen musste. Es gab nicht viele Gewohnheiten in ihrem Leben. Der Kaffee zur Morgenzeitung, die weiten Nachthemden und ihre Utensilien im Badezimmer. Wenn sie sich morgens wusch und mit nassen Händen über das Waschbecken gebeugt nach der Zahnbürste tastete, dann brauchte sie nicht den Kopf zu drehen. Blind wusste sie, wo alles stand. Und dieser Zahnputzbecher stand nicht an seinem Platz.
War Larsen während ihrer Abwesenheit in der Wohnung gewesen? Nein, sie hatte ihm nach der Auseinandersetzung den Wohnungsschlüssel abgenommen. Und dass er einen Zweitschlüssel angefertigt hatte, daran glaubte sie nicht. Konnte trotzdem jemand in ihrer Wohnung gewesen sein? Ein Einbrecher?
Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Mit einem Mal war sie hellwach. Sie nahm Kampfhaltung an. Vorbereitet auf das Unerwartete durchsuchte sie Zimmer um Zimmer. Nirgends gab es Spuren einer Veränderung. Nichts deutete darauf hin, dass ein Fremder in der Wohnung gewesen war, wäre da nicht der verschobene Zahnputzbecher im Bad gewesen. Sie schaute sich die Eingangstür noch einmal genau an. Keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens.
Sicherheitshalber schloss sie zweimal ab und legte den Sperrriegel vor. Sie ging ins Wohnzimmer und warf einen Blick aus dem Fenster. Es war kurz nach ein Uhr, mitten in der Nacht. Der Marktplatz von Marienhafe schlummerte friedlich im gelben Licht der Gasdampflampen. Drüben stand Störtebeker auf seiner Empore und blickte die Rosenstraße hinunter.
Plötzlich zuckte sie zusammen: Auf dem Parkplatz gegenüber stand in den ansonsten leeren Parkbuchten ein einzelner dunkler Wagen. Ein gelbes Nummernschild und schwarze Buchstaben, aber die Zahlen- und Buchstabenkombination unterschied sich von der des Nachbarlandes Holland. Wahrscheinlich französisch, dachte sie.
In unregelmäßigen Intervallen glühte ein orangerotes Licht im Wageninnern auf. Wie das Auge eines Raubtiers. Sie hielt den Atem an.
Dann hörte sie das Kratzen an ihrer Tür.
*
Trevisan beeilte sich. Das kalte Wasser hatte seinen Kreislauf in Schwung gebracht und die Kopfschmerzen vertrieben. Er zog seinen dunklen Anzug an und suchte den warmen Parka mit dem Teddyfutter und der Kapuze in seinem Kleiderschrank. Er fand ihn nicht gleich und warf die anderen Jacken achtlos auf den Boden. Nur eine hielt er erst ein paar Sekunden gedankenverloren in der Hand. Es war die Jacke seines Hochzeitsanzuges. Endlich fand er den Parka und zog ihn über. Als er das Haus verließ, blies ihm der kalte Wind ins Gesicht. Er kämpfte sich gegen die Böen zur Garage vor.
Die Straßen waren an diesem Morgen leer, kaum fünfzehn Minuten später parkte er im Areal des Dienstgebäudes in der Peterstraße.
»Da bist du ja endlich«, empfing ihn Johannes Hagemann, als Trevisan durch die Glastür in den langen Gang des zweiten Stocks trat. Johannes trug seinen Anglerparka, eine grüne, dicke Hose und Gummistiefel. Die obligatorische Mütze hing wie immer schief auf seinem Kopf. »Auf geht’s. KW-Brücke, Nordufer.«
»Eine Wasserleiche?«
»Eine ganz hässliche sogar«, antwortete Johannes Hagemann.
»Wer ist draußen?«
»Die Feuerwehr und zwei Streifen. Fährst du?« Hagemann warf ihm den Autoschlüssel zu.
Trevisan parkte den grauen Opel Omega unterhalb der Kaiser-Wilhelm-Brücke. Zwei Wagen der Feuerwehr, ein Rettungswagen und zwei Streifenwagen standen auf dem Feldweg. Davor parkte der weiße Mercedes-Bus der Spurensicherung. In einem schwarzen Schlauchboot, das nahe dem Ufer an den alten Poldern trieb, saßen drei Feuerwehrmänner in signalroten Einsatzjacken und ertasteten mit langen Sondierstangen den Grund des Hafens. Ein Taucher saß in Decken eingehüllt auf dem Trittbrett des Rettungswagens und ließ sich von einem Sanitäter eine dampfende Tasse Tee reichen.
Mittlerweile hatten die Kollegen der Streifenpolizei den Uferbereich mit rot-weißem Absperrband markiert. Inmitten des kleinen abgegrenzten Platzes sah Trevisan eine schwarze Plastikplane. Er konnte sich denken, was er darunter vorfinden würde.
Einer der Polizisten drehte sich zu ihnen um. Trevisan kannte den Oberkommissar vom 1. Revier.
»Moin«, grüßte der Beamte. »Leider ein unappetitlicher Anblick.«
Trevisan beobachtete, wie Horst Kleinschmidt von der Spurensicherung mit einem jungen Kollegen auf die schwarze Plane zuging. Nur kurz hob er die Plastikfolie an, dann ließ er sie wieder sinken. Der Jüngere wandte den Kopf ab.
»Ein Selbstmörder?«, fragte Hagemann.
Der Oberkommissar schüttelte den Kopf. »Eher nicht, dem Toten sind die Hände auf dem Rücken zusammengebunden.«
»Also dann raus mit der Sprache.«
Der Kollege verzog den Mundwinkel. »Gut, in Kurzform also«, erwiderte er angekratzt. »Heute Morgen gegen sieben erhielten wir von einem Angler einen Notruf. Er hatte im Schein seiner Taschenlampe die Leiche noch halb unter Wasser treibend entdeckt. Wir haben die Feuerwehr informiert. Die zogen ihn raus. Hatte sich offenbar in den Schlingpflanzen verfangen und bekam jetzt durch den Fäulnisprozess Auftrieb. Ein Mann zwischen zwanzig und fünfzig. Lag bestimmt schon über einer Woche in der Suppe, wahrscheinlich sogar länger. Das kalte Wasser konserviert.«
»Gibt es Hinweise auf seine Identität?«
»Schwer zu sagen. Wo normalerweise der Kopf sitzt, ist jetzt nur noch Hackfleisch. Wahrscheinlich die Schiffsschraube eines Außenborders. Er trägt eine zerschlissene Jeans und einen dunklen Pullover. Die Hosentaschen sind leer.«
»Eine unbekannte männliche Leiche«, resümierte Hagemann. »Also dann, frohe Weihnachten.«
»Der Taucher hat die Umgebung des Fundortes unter Wasser abgesucht«, fuhr der Oberkommissar fort. »Er fand in der Nähe einen Rucksack. Aber es ist alles sehr dunkel dort unten. Jetzt suchen die Feuerwehrmänner mit ihren Stangen weiter. Für den Taucher ist es bei den Wassertemperaturen nach zehn Minuten vorbei.«
Trevisan nickte. »Habt ihr den Rucksack untersucht?«
»Wir fanden darin eine Regenjacke, eine leere Geldbörse mit ein paar unidentifizierbaren Papieren und die Plastikkarte einer Bücherei in Würzburg. Das liegt im Norden von Baden Württemberg. Die Karte ist ausgestellt auf einen gewissen Peter Luksch. Aber es gibt kein Bild und kein Geburtsdatum, nur eine Mitgliedsnummer.«
»Bayern«, antwortete Trevisan.
»Was?«, fragte der Kollege erstaunt.
»Würzburg liegt in Bayern«, erklärte Trevisan und ließ ihn stehen.
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