Schröders Geist und Mozarts Noten. Jens Oberheide
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(Berthold Litzmann: „Der große Schröder“, Berlin u. Leipzig 1904)
»Wenn Hunger und Elend Menschen bilden können, so muss ich vollkommen geworden sein.«
(Friedrich Ludwig Schröder)
Wie die Streiflichter durch die Kindertage der beiden Protagonisten zeigen, waren sie im »Teenager-Alter« schon fertige Künstler. Man könnte sagen: Ja, das Wunderkind Mozart! Oder: Schröder blieb ja nichts anderes übrig als die Bühne. Man darf aber nicht vergessen, dass Genie und Fleiß zusammengehören. Und meist muss noch eine Portion Ehrgeiz hinzukommen. Nichts geschieht von selbst. Auch eine geniale Veranlagung muss erst einmal entwickelt werden. Bei Mozart tat das der ehrgeizige Vater ziemlich uneigennützig (er war selbst ein hervorragender Musiker). Er war davon überzeugt, wie er einmal an seinen Sohn schrieb, »dass ich in meinem Leben mehr für dein Glück und Vergnügen, als für das meinige besorgt war …« Bei Schröder taten das die Lebensumstände auf der Wanderbühne, ein gestrenger Stiefvater und eine liebevolle Mutter, die alles daran gesetzt hat, ihren Sohn weg vom Rebellen und hin zum ernst zu nehmenden Schauspieler zu erziehen.
Man darf sich die jungen Schröder und Mozart tagsüber in der Kutsche und im Wohnwagen und abends auf der Bühne oder im Konzertsaal vorstellen. So sind beide kreuz und quer durch Europa getingelt.
Dieses unstete Leben ließ bei den reisenden Künstlerkindern wenig Platz zum elementaren Lernen. Das musste gleichsam nebenbei passieren. Leopold Mozart gab sich größte pädagogische Mühe (nicht nur in musischer Hinsicht). Sophie Charlotte Ackermann hat immerhin versucht, ihren Sohn zwischendurch auch mal an Schulen unterzubringen. Der »Rest« ergab sich durchs Leben selbst, durch Einflüsse von außen, durch Selbststudium, diszipliniertes Auswendiglernen und Interpretieren. Natürlich musste man dafür lesen und schreiben (und begreifen!) können. Allgemeinbildung fand für die Jungen (manchmal) am Rande statt. Durch europaweite Auftritte konnten Mozart und Schröder schließlich recht gut Englisch, Französisch und Italienisch reden und schreiben. Beide hatten auch Grundkenntnisse in Latein. Auf diese Weise hatten sie mehr Wissen und schulische Bildung als die meisten ihrer Altersgenossen.
Und die Defizite versäumter Kindheit?
Wir dürfen Mozart abnehmen, dass er (subjektiv) nicht wirklich unter dem Verzicht auf »Kindheit« gelitten hat. Er hat sich auch niemals über sein Schicksal beklagt. Die Musik war seine Welt, in ihr ging er ganz auf. Sie war sein Leben.
Und Schröder? Außer dem Theaterleben und dem Vagabundieren hatte er in seinen jungen Jahren beruflich nichts anderes kennengelernt. Schließlich wurde das seine Welt, und er war der Mensch, der diese Welt selbstbewusst und dynamisch annahm, um das Allerbeste daraus zu machen. Er war ehrgeizig.
Der »Thespis-Karren«, Schauspieler unterwegs, zeitgen. Gemälde
Das Publikum amüsiert sich, J. H. Ramberg, 1785
Von freien und unfreien Künstlern: Vaganten, Musikanten, Komödianten
»Wie, Herr Landgraf? Sie rümpfen die Nase ob deutscher Bühne? Sie sollen eine Lektion zum Umlernenkriegen!«
(Friedrich Ludwig Schröder in den Mund gelegt von Hilde Knobloch in: »Der Feuergeist«, Graz 1941)
»... wenn wir Deutsche ... im Ernst anfangen würden, deutsch zu reden, deutsch zu handeln, deutsch zu denken und gar deutsch zu singen ...«
(Wolfgang Amadé Mozart in einem Brief an seinen Vater)
Mozart und Schröder erlebten in ihren jungen Jahren Musik, Theater, Ballett noch als exklusives höfisches Vergnügen, welches sie bedienen (oder von Ferne wahrnehmen) mussten. Sie machten die Erfahrung, dass Darsteller, Sänger, Tänzer und Musiker vom Wohlwollen, der Lust und Laune der Könige und Fürsten lebten, die sich eigene Hoftheater und die dazugehörigen Künstler »leisteten«. Berufsziel aller junger Künstler war damals ein festes höfisches Engagement mit regelmäßigen Einkünften.
Bürgerliche und öffentliche Opernhäuser waren im deutschsprachigen Raum die große Ausnahme (Hamburg). Zur Jahrhundertwende vom 17. zum 18. gab es hierzulande neben ungezählten »Hoftheatern« lediglich drei »öffentliche und populäre«, das heißt städtisch oder privatwirtschaftlich finanzierte, Opernhäuser, die für jedermann zugänglich waren.
Das autonome Sprechtheater war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht in Sicht- und Hörweite. Immerhin hat der junge Theologiestudent Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) schon 1747 ein Stück für die Wanderbühne der »Neuberin« (Friederike Caroline Neuber, 1697–1760) geschrieben. Der »Literaturpapst der Aufklärung«, Johann Christoph Gottsched (1700–1766), steht mit den Genannten Mitte des 18. Jahrhunderts für die ersten im Volke wahrnehmbaren »theatralischen« Bemühungen außerhalb der höfischen Szene. Gegen Ende des Jahrhunderts gab es dann schon mehr als 80 feste Theater. Welch rasante Entwicklung!
»The laughing Audience«, Stich von William Hogarth
Zu den »Vaganten« (von lat. »Umherziehende«) hatte man im deutschen Mittelalter auch gelehrte Bohèmians, Dichter, Schauspieler, Minnesänger und Troubadoure gezählt. Als »Konkurrenz« zu höfischer Musik, Sprache und Thematik bot das umherziehende »fahrende Volk« leichte weltliche Stoffe und volkstümliche Musik für alle. Ein mühsames Geschäft.
Das hatte sich in den deutschen Landen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nicht wesentlich geändert. Musiker zogen tingelnd umher, Wanderbühnen brachten vor allem anspruchslose »Haupt- und Staatsaktionen« (wie Gottsched das nannte) auf die Bühne vor den Toren der Stadt, Räuberdramen und klamaukartige Lustspielchen. Der »Hanswurst« gehörte ebenso zwingend dazu, die Zuschauer bei Laune zu halten, wie Akrobaten und Possenreißer.
Schauspieler hielt man für Vagabunden. Sie mussten ein sozial ungesichertes und meist auch karges Leben führen. »Musikanten und Comödianten – eins ist Pack wie das andere« (zeitgenössisches Vorurteil, zitiert nach Hermann Schwedes, Bonn, 1993).
Das deutsche Theater hat keine Ahnenreihe wie das italienische, das französische oder etwa das englische (Shakespeare), vom griechischen Theater der Antike ganz zu schweigen. Aber das ist eine eigene Geschichte. Ein eigenständiges deutsches Theater steht zeitlich in der europäischen Kulturgeschichte weit hinten. Man bedenke, dass Gotthold Ephraim Lessing noch 1768 den, wie er sagte »gutherzigen Einfall« aufgeben musste, »den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen«. Er scheiterte auch, weil »wir Deutsche noch keine Nation sind«.
Wie konnte sich unter diesen Umständen dennoch eine »deutsche« Kulturszene entwickeln? Bezeichnend ist, dass Lessing überhaupt der Erste war, der ein »deutsches Drama« auf die Bühne gebracht hat (1755), bei dem ein bürgerlicher Mensch im Mittelpunkt des Geschehens steht. Schiller hatte seine Gedanken zum Theater als »moralischer Anstalt« für das Volk, das heißt: für alle, zu diesem Zeitpunkt noch nicht formuliert.
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