Pass doch endlich auf!!!. Hans-Albrecht Zahn
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Neugier, Interesse und Liebe sind die geistigseelischen Grundlagen der Aufmerksamkeit. Wir können unser Aufmerksamkeit verschiedenen Themen zuwenden. In den modernen Gesellschaften wird das Bewusstsein hauptsächlich auf die materielle Welt gerichtet. In den alten religiös-spirituell orientierten Kulturen richtete sich die Aufmerksamkeit in erster Linie auf die geistig-seelische Welt.
Erst in jüngerer Zeit wurde die „Aufmerksamkeit auf die Aufmerksamkeit“ selbst gerichtet. Im neunzehnten Jahrhundert hat der Arzt H. Hoffmann Aufmerksamkeitsprobleme thematisiert. Er schrieb in dem Kinderbuch der „Struwwelpeter“ Geschichten von allen möglichen Kindern, die heute als aufmerksamkeitsgestört bezeichnet würden. Da gibt es den „Hans Guck in die Luft“, der nicht aufpasst, über einen Hund fällt und ins Wasser platscht oder den „Zappelphilipp“, der nie ruhig sitzen kann und die ganze Familie durcheinander bringt.
Seit Mitte der 90 –er Jahre werden Aufmerksamkeitsstörungen unter dem Stichwort AD(H)S zu einem zentralen Thema. Sie werden als Krankheit betrachtet und vorwiegend mit Medikamenten behandelt. Manche Autoren halten diese „Pathologisierung“ für falsch und sehen die Aufmerksamkeitsprobleme eher als eine pädagogische Herausforderung als eine physiologische Krankheit an.2
Krankheitsdiagnosen wirken tendenziell im Sinn einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung („selffullfilling prophecy). Das betroffene Kind empfindet sich als „krank“ und muss sich sagen: „Ich habe eine Krankheit, die heißt AD(H)S. Scheinbar funktioniert irgendetwas in meinem Gehirn nicht richtig. Das ist der Grund, dass ich nicht aufpassen kann. Ich selbst kann da nichts machen. Wenn ich Glück habe, wirkt vielleicht ein Medikament, welches mir der Arzt verordnet.“
Eltern und Lehrer von „AD(H)S – Kindern“ sind ebenso von dieser Dynamik betroffen. Auch sie sind durch die Krankheitsdiagnose überzeugt, durch Schulung und Erziehung wenig erreichen zu können und hoffen auf äußere Hilfe in Form eines Medikamentes. Die übliche Pathologisierung wirkt tendenziell schwächend auf die Eigeninitiative der Beteiligten.
Ich halte es für fruchtbarer, das Bewusstsein darauf zu richten, wie Aufmerksamkeit verbessert werden kann als darauf zu schauen, wie Aufmerksamkeitsstörungen beseitigt werden können. In über 200 Übungen werden in diesem Buch Möglichkeiten aufgezeigt, wie Aufmerksamkeit entwickelt werden kann.
Dieses Buch gibt Orientierung für diejenigen, die sich für Aufmerksamkeit und Bewusstseinsentwicklung interessieren. Es werden Zusammenhänge aufgezeigt, die für die psychologische und spirituelle Entwicklung von grundlegender Bedeutung sind. Übungsformen werden beschrieben, die üblicherweise nicht im Zusammenhang mit einem besonderen Aufmerksamkeitstraining gesehen werden. Dazu gehören Geschicklichkeitsübungen, Sprachübungen, Wahrnehmungs- und Mediationsaufgaben usw.
Erzieher, insbesondere Lehrer und Eltern können sich ein Bild verschaffen über die wesentlichen Gründe und Behandlungsmöglichkeiten von Aufmerksamkeitsproblemen. Der Lehrer wird Anregungen für seinen Unterricht gewinnen, die Eltern finden Aufgaben für den Erziehungsalltag und der Lerntherapeut kann sich ein Schulungsprogramm für seine Therapiestunde zusammenstellen.
1 Hoffman Dr. Heinrich: Der Struwwelpeter Orginalausgabe Morgarten, Rütten§Lennig Verlag Frankfurt, 1845
2 Henning Köhler: War Michel aus Lönnaberga aufmerksamkeitsgestört? Verlag Freies Geistesleben, 2002
KAPITEL I
PHÄNOMENE
1. PHÄNOMENE
Zunächst wollen wir uns verschiedenen Erscheinungsformen zuwenden, die wir als Aufmerksamkeit oder Unaufmerksamkeit erleben.
1.1 EIGENE ERLEBNISSE
Übung: Beobachtung „Aufmerksamkeit“
Erinnern Sie sich an eine Situation, wo sie Aufmerksam erlebt haben! Beschreiben Sie diese! Was würden Sie als typisch „aufmerksam“ bezeichnen ? Tauschen Sie sich mit einem Partner aus!
Übung: Beobachtung „Unaufmerksamkeit“
Wo haben Sie Unaufmerksamkeit erlebt? Beschreiben Sie die Situation! Was würden Sie als typisch „unaufmerksam“ bezeichnen ? Tauschen Sie sich mit einem Partner aus!
Übung: Selbstbeobachtung „Aufmerksamkeit“ Erinnern Sie sich nun an eine Situation, in der Sie sich selbst als sehr aufmerksam oder konzentriert erlebt haben! Halten Sie ihre inneren Beobachtungen fest und tauschen Sie sich mit einem Partner aus!
Übung: Selbstbeobachtung „Unaufmerksamkeit“
Erinnern Sie sich nun an eine Situation, in der Sie unaufmerksam waren! Was waren die Folgen dieser Unaufmerksamkeit? Können Sie irgendwelche Gründe für Ihre Unaufmerksamkeit finden? Wie hätte sich die Situation evtl. verhindern lassen?
Tauschen Sie sich mit einem Partner aus!
1.2 BILDER UND ASSOZIATIONEN
Aufmerksamkeit
Wir suchen nun Lebensbeispiele, in denen Aufmerksamkeit in typischer Weise zum Ausdruck kommt.
Beispiel: Balancieren (Äquilibristik)
Ein Seilkünstler spannt ein Hochseil aus und balanciert nun Schritt für Schritt von einer Seite auf die andere. Schon beim Zusehen erlebt der Zuschauer Konzentration in höchster Form.
Beispiel: Jonglage
Ein Jongleur nimmt einige Bälle in die Hand und beginnt die Bälle nacheinander hochzuwerfen, um eine Jonglage zu realisieren. In jedem Augenblick muss der Jongleur genau erspüren, wo sich jeder Ball gerade befindet.
Beispiel: Der konzentrierte Handwerker
Ein Schreiner bearbeitet ein Werkstück und ist bei jeder einzelnen Tätigkeit innerlich ganz bei der Sache. Er prüft das Holz, das er auswählt. Er spannt das Werkstück in die Werkbank, er sägt, hobelt und schleift es. Bei jedem einzelnen Schritt ist er hoch konzentriert.
Beispiel: Zeichnen und Malen
Einige Künstler beschreiben, wie das Zeichnen ihre allerhöchste Konzentration verlangt. Der japanische Künstler Hokusai sagt: „….Ich möchte gerne hundert Jahre alt werden, weil ich erst dann so weit sein werde, einen Punkt richtig zu zeichnen.“ Henri Matisse macht seinen Aufmerksamkeitsprozess mit folgenden Worten deutlich: „Wenn ich meiner zeichnenden Hand vertraue, dann deshalb, weil ich sie niemals die Gewalt über mein Gefühl ergreifen ließ, als ich sie lehrte mir zu dienen. Ich fühle sehr genau, wenn sie abschweift, wenn eine Uneinigkeit zwischen uns besteht.“
Beispiel: