Verwirrung der Gefühle / Смятение чувств. Книга для чтения на немецком языке. Стефан Цвейг
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Verwirrung der Gefühle / Смятение чувств. Книга для чтения на немецком языке - Стефан Цвейг страница 11
„Heute noch abreisen?… Ja, warum denn?“ Das war wieder Ernas Stimme.
„Ich weiß nicht. Wer kennt sich in ihm aus. Unsere Gesellschaft konveniert ihm nicht, die Herren stehen ihm offenbar nicht zu Gesicht – wahrscheinlich fühlt er selbst, wie schlecht er zu ihnen passt. Wirklich eine Schande, wie er herumgeht, immer die Kleider zerdrückt, mit offenem Kragen… Du solltest ihn doch aufmerksam machen, wenigstens abends sich ein bisschen soignierter zu halten, auf dich hört er ja. Und heute vormittag… ich habe geglaubt, ich müsste in die Erde sinken, wie er den Tenente wegen des Feuerzeugs anfuhr…“
„Ja, Mama… was war das?… Ich wollte dich schon fragen… Was war das mit Papa?… So habe ich ihn nie gesehen… ich bin wirklich erschrocken.“
,Ach was, schlechte Laune war es… wahrscheinlich sind die Kurse gefallen… oder weil wir Französisch gesprochen haben… Er kann es nicht vertragen, wenn andere vergnügt sind… Du hast’s ja nicht bemerkt: während wir tanzten, stand er an der Tür wie ein Mörder hinter dem Baum… Abreisen! Auf der Stelle abreisen! und nur weils ihm plötzlich so beliebt… Wenns ihm hier nicht gefällt, soll er doch uns unsere Freude lassen… aber ich kümmere mich nicht um seine Launen, er soll sagen und tun, was er will.“
Das Gespräch stockte. Offenbar war während des Redens die Abendtoilette beendet: ja, die Tür wurde geöffnet, jetzt gingen sie aus dem Zimmer, der Kontakt knackte, das Licht erlosch.
Der alte Mann saß ganz still auf der Ottomane[27]. Er hatte jedes Wort gehört. Aber sonderbar: es tat nicht mehr weh, gar nicht mehr weh. Das, was früher gehämmert und gerissen, dies wilde Uhrwerk, stand ganz still in der Brust, es musste zerbrochen sein. Nichts zuckte auf an dieser scharfen Berührung. Kein Zorn, kein Hass… nichts… nichts… Ruhig knöpfte er die Kleider zu, tappte vorsichtig die Treppe hinab und setzte sich hin an ihren Tisch wie zu fremden Menschen.
Er sprach nicht zu ihnen an jenem Abend, sie beide wiederum merkten das wie Fäuste geballte Schweigen nicht. Ohne Gruß ging er dann wieder in sein Zimmer, legte sich zu Bett und löschte das Licht. Viel später erst kam seine Frau von heiterer Unterhaltung; da sie ihn schlafend meinte, kleidete sie sich im Dunkel aus. Bald hörte er ihre schweren, unbesorgten Atemzüge.
Der alte Mann, allein mit sich selbst, starrte offenen Auges in das grenzenlos Leere der Nacht. Neben ihm lag etwas im Dunkel und atmete tief: er bemühte sich zu erinnern, dass dieser Körper, der da gleiche Luft des gleichen Zimmers trank, derselbe war, den er jung und glühend gekannt, der ihm ein Kind gegeben, ein Körper, ihm verbunden durch das tiefste Geheimnis des Bluts; immer wieder zwang er sich, zu denken, dass dies Warme und Weiche nebenan, das er mit der Hand anrühren konnte, einmal Leben gewesen in seinem Leben. Aber sonderbar: dies Erinnern erregte kein Gefühl mehr. Und er hörte diese Atemzüge nicht anders, als von dem offenen Fenster die murmelden kleinen Flutwellen, die glucksend an den Kieseln des Ufers schmatzten. All das war ferne und wesenlos, nur mehr ein Nebenan, ein Zufälliges und Fremdes: vorbei, für immer vorbei.
Einmal zitterte er noch auf: ganz leise und schleicherisch ging nebenan die Tür vom Zimmer der Tochter., Also heute wieder“ – einen kleinen heißen Stich noch fühlte er in dem schon totgemeinten Herzen. Eine Sekunde zuckte da etwas wie ein Nerv, ehe er ganz abstirbt. Dann war auch dies vorbei: „Mag sie tun, was sie will! Was geht sie mich noch an!“
Und der alte Mann legte sich wieder zurück in das Kissen. Weicher drängte das Dunkel an die schmerzenden Schläfen, schon sickerte blaue Kühle wohltätig ins Blut. Und bald überschattete ein dünner Schlummer die entkräfteten Sinne.
Als die Frau morgens erwachte, sah sie ihren Mann schon in Mantel und Hut. „Was tust du da?“ fragte sie noch schlaftrunken.
Der alte Mann wandte sich nicht um, gleichmütig stopfte er noch Nachtzeug in den Handkoffer. „Du weißt ja, ich fahre zurück. Ich nehme nur das Nötigste mit, das andere könnte ihr mir nachschicken.“
Die Frau schrak auf. Was war das? So hatte sie seine Stimme nie gehört: ganz kalt, ganz starr stieß jedes Wort sich aus den Zähnen. Mit beiden Beinen fuhr sie aus dem Bett. „Du willst doch nicht abreisen?… warte… wir fahren doch auch, ich habe es schon Erna gesagt… „
Aber er winkte nur heftig ab. „Nein… nein… Lasst euch nicht stören.“ Und ohne sich umzusehen, tappte er zur Tür. Die Klinke niederzudrücken, musste er den Koffer für einen Augenblick auf den Boden stellen. Und in dieser einen zuckenden Sekunde erinnerte er sich: tausendmal hatte er so den Musterkoffer vor fremder Tür abgestellt, ehe er mit rückgewendetem Bückling hinausging, servil[28] sich für weitere Aufträge empfehlend. Aber hier hatte er keinerlei Geschäft mehr: so unterließ er jeden Gruß. Ohne Blick, ohne Wort hob er die Reisetasche wieder auf und schlug klirrend die Klinke zwischen sich und sein früheres Leben.
Sie verstanden nicht, Mutter und Tochter, was geschehen war. Aber das auffällig Brüske und Entschlossene dieser Abreise beunruhigte beide. Sofort schrieben sie ihm Briefe, umständlich erklärende, ein Missverständnis vermutende, beinahe zärtliche, in die süddeutsche Heimat nach, fragten voll Sorge, wie er gereist, wie er angekommen sei, erklärten sich plötzlich nachgiebig und jederzeit bereit, den Aufenthalt abzubrechen. Er antwortete nicht. Sie schrieben dringlicher, sie telegraphierten: keine Antwort kam. Nur vom Geschäft aus traf die Summe ein, die einer der Briefe als nötig erwähnt: eine Postanweisung mit Firmastempel ohne eigenhändiges Wort, ohne Gruß.
Ein so unerklärlicher und drückender Zustand ließ sie die Heimreise beschleunigen. Obwohl telegraphisch angemeldet, erwartete sie niemand am Bahnhof, auch zu Hause trafen sie alles unvorbereitet: der alte Mann hätte zerstreut, wie die Dienstleute versicherten, die Depesche auf dem Tisch liegen gelassen und sei ohne Weisung weggegangen. Abends, sie saßen schon beim Essen, hörten sie endlich die Haustüre: Sie sprangen auf und ihm entgegen. Er starrte sie überrascht – offenbar hatte er die Depesche vergessen – , doch ohne den Ausdruck besonderen Gefühls an, duldete gleichmütig die Umarmung der Tochter, ließ sich in das Speisezimmer fuhren und erzählen. Aber er stellte keine Fragen, sog stumm an seiner Zigarre, antwortete manchmal karg, manchmal überhörte er die Fragen und Ansprache: es war, als ob er mit offenen Augen schliefe. Dann hob er sich schwer auf und ging in sein Zimmer.
Und so blieb es in den nächsten Tagen. Vergeblich versuchte die beunruhigte Frau eine Aussprache: je aufgeregter sie in ihn drang, um so drückerischer wich er aus.
Irgend etwas in ihm war versperrt, war unzugänglich geworden, ein Zugang vermauert. Noch speiste er mit ihnen bei Tisch, saß, wenn Gesellschaft war, eine Zeitlang schweigend und in sich vergraben dabei. Aber er nahm an nichts Anteil mehr, und wenn die Gäste mitten im Gespräch zufällig in seine Augen sahen, hatten sie ein peinliches Gefühl, denn da starrte ein toter Blick ganz seicht und stumpf über sie hinaus.
Auch dem Fremdesten fiel bald die zunehmende Sonderbarkeit des alten Mannes auf. Schon begannen die Bekannten heimlich sich anzustoßen, begegneten sie ihm auf der Straße: da schlich der alte Mann, einer der Reichsten der Stadt, wie ein Bettler die Mauer entlang, den Hut schief und zerdrückt, den Rock mit Zigarrenasche bestäubt, bei jedem Schritt sonderbar schwankend und meist halblaut zu sich selber murmelnd. Grüßte man ihn, so hob er den erschreckten Blick, redete man ihn an, so starrte er leer dem Sprechenden entgegen und vergaß, ihm die Hand zu reichen. Zuerst meinten manche, der alte Mann sei ertaubt, und wiederholten lauter die Worte. Aber dies war es nicht, sondern er brauchte immer Zeit, sich selbst aus einem innern Schlaf zu holen, und mitten im Gespräch noch fiel er in eine sonderbare Verlorenheit wieder zurück. Dann loschen mit einemmal die Augen aus, er brach hastig ab und stolperte weiter, ohne die Überraschung des ändern zu bemerken. Immer schien er aus einem dumpfen Traum, aus einem
27
Ottomane
28
servil