Hätschelkind. Wimmer Wilkenloh
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Читать онлайн книгу Hätschelkind - Wimmer Wilkenloh страница 10
»Meinst du es war falsch ihn anzurufen?« Mielke sieht Swensen mit fragenden Augen an.
»Zweifel ist nur eine Kette von Worten in deinem Geist!«
»Was?«
»Das war ein Scherz, Stephan! Vergiss es einfach. Wo kann ich Handschuhe bekommen?«
Mielke zieht ein Paar aus der Manteltasche und reicht sie Swensen, der diese geräuschvoll über die Hände zieht.
»Was ist mit dem Videobesitzer?«
»Nichts was uns großartig weiterhelfen könnte«, antwortet Swensen knapp, um endlosen Spekulationen vorzubeugen. »Und hier? Habt ihr schon was gefunden?«
Der Kommissar hat nebenbei damit begonnen, sämtliche Schranktüren in der Küche zu öffnen und wieder zu schließen.
»Bis jetzt nichts!«, antwortet Mielke. »In der ganzen Wohnung gibt es offensichtlich keinen Hinweis auf irgendeine Gewalttat. Die Kollegen fragen im Moment in der Nachbarschaft herum, ob jemand was gesehen oder gehört hat.«
»Gut«, bestätigt Swensen. »Wir sollten uns nachher in der Inspektion noch mal kurz zusammensetzen und die Ergebnisse durchgehen.«
Er beginnt Schubladen zu öffnen und wieder zu schließen. In Mielkes Mimik zeichnet sich eine gewisse Gereiztheit ab.
»Was machst du da eigentlich?«
»Ich suche nach einem Zugang zu Eddas Universum! Ermitteln ist so etwas wie das Begreifen gegenseitiger Abhängigkeiten, die zwischen einem Ganzen und seinen Teilen besteht. Ohne Teile kein Ganzes und ohne Ganzes machen auch unsere Mutmaßungen über die Teile keinen Sinn.«
Mielke murmelt etwas, tippt Paul Richter an und beide suchen überstürzt das Weite. Swensen kennt diese Reaktionen von seinen Kollegen.
Es ist zwar fast schon gar nicht mehr wahr, denkt er, aber die Praxis der Mahayana-Schule hat mich offensichtlich doch mehr verändert, als mir manchmal klar ist. Immer bei solchen Reaktionen steht ihm seine Zeit im buddhistischen Zentrum plastisch vor Augen. Wenn ich richtig drüber nachdenke, hat der Meister uns seine Worte förmlich ins Gedächtnis eingeknetet, auf ewig abrufbar.
An die kleine, hutzlige Gestalt, das menschliche Lächeln unter den buschigen Augenbrauen und an das schleifende Geräusch, das seine orangefarbene Leinenrobe auf dem Steinfußboden erzeugte, erinnert er sich, als wäre es gestern gewesen.
»Es ist wichtig zu erkennen, wie Dinge und Ereignisse entstehen«, sagte Lama Rhinto Rinpoche fast immer, wenn er vor der Gruppe mit seiner wöchentlichen Belehrung begann. »Alle Dinge und Ereignisse stehen in Abhängigkeit von Ursache und Wirkung. Und was bedeutet das für uns? Es bedeutet die Erkenntnis, dass kein Ding oder Ereignis von uns so gedacht werden kann, dass es aus sich selbst eine Existenz gewinnt.«
Swensen hatte sich, das weiß er heute genau, jedes der Worte zu Eigen gemacht. Allerdings brauchte es Jahre, bis er sie auch ab und zu in seinen beruflichen Alltag einbauen konnte. Wie gerade jetzt, wo er eine imaginäre Fährte spürt, die aber nur als eine feine Ahnung existiert. Es ist klar, die Dinge in diesem Raum haben sich aus unzähligen Ursachen und vorausgegangenen Bedingungen so angeordnet, wie sie jetzt vor ihm liegen. Doch was sagt das schon? Achtsam sein! Wenn er sie ansieht, wenn er versucht sie aus seiner verengten Sicht zu beurteilen, kann er damit die Wirklichkeit ihrer Existenz verändern. Und wenn er etwas bewertet und dabei nicht höllisch aufpasst, kann er falsche Schlüsse ziehen.
Der Kriminalist zieht die Schublade unter dem Spülbecken auf. Das war es, was er die ganze Zeit gesucht hatte, dieser unauffällige Ort, wo beim modernen Menschen zumindest der Instinkt des Sammlers überlebt hat. Da liegt neben der Packung Gall-Seife ein Päckchen Gummibänder, ein rotes Plastikherz gefüllt mit einer Sammlung rostiger Schlüssel, eine Rolle Band, Toppitz Alufolie, eine Schere, ein Stoß Taschentücher, Reklame diverser Pizzaschnelldienste, ein Heftchen mit dem Titel ›Ätherische Öle‹ und ein zusammengefaltetes gelbes Flugblatt. Swensen klappt es auf und liest: Das Geld liegt nicht nur auf der Straße! Es kann auch bei Ihnen im Keller oder auf dem Boden liegen. Alte Bücher, handschriftliche Tagebücher, Figuren und Möbel. Wir kaufen alles für einen guten Preis! Schauen Sie nach und rufen Sie uns an. Wohnungsauflösungen, Nachlässe, wir zahlen bar! Ihr Ex und Hopp-Service Ludwig Reifenbaum. Tel. 0172426685.
Swensen überlegt angestrengt.
Warum hat Edda den Zettel aufgehoben, rätselt er. Sie muss sich davon doch etwas versprochen haben. Brauchte sie Geld? Hatte sie irgendwelche wertvollen Sachen, vielleicht Antiquitäten?
Er steckt den Zettel in eine der mit Nummern versehenen Cellophantüten, die Mielke auf den Küchentisch liegengelassen hat.
Und wie hilft uns das jetzt weiter, sinniert er weiter und wiegt seinen Fund in der Hand, als Peter Hollmann mit Mielke im Schlepptau eintritt.
»Dieses Fotoalbum habe ich gerade in der Schrankschublade gefunden«, erklärt Hollmann und legt einen grünen Kunstlederband auf den Küchentisch. Über das Gesicht, das unter der Plastikkapuze hervorlugt, läuft der Schweiß.
»Hinten liegen diese losen Passbilder drin.«
Er drückt Swensen drei Fotos in die Hand und ist schon wieder verschwunden. Der stutzt und reicht sie an Mielke weiter.
»So sieht also Edda Herbst wirklich aus. Merkwürdig, nech?«
»Wieso?«
»Na ja, guck dir das Bild doch mal genau an. Sieht unserem Computerbild nicht gerade besonders ähnlich, oder?«
»Na und?«
»Ich finde das schon eine Leistung von dem Peters, dass er sie auf unserem Bild erkannt hat.«
»Findest du? Aber sie hat doch bei ihm gearbeitet«, wirft Mielke vorsichtig ein. »Zumindest können wir froh sein, dass wir durch den Videofritzen endlich wissen, wer die Frau ist.«
Swensen merkt, dass er bei Stephan Mielke schon wieder zu weit vorgeprescht ist.
»Es ist nicht immer geschickt, spontane Ideen sofort nach draußen zu posaunen«, denkt er und nickt Mielke zu.
»Da hast du recht, Stephan! Priorität im Fall Edda Herbst ist jetzt, dass wir uns schnell ein Bild von ihrem Leben machen.«
* * *
Swensen lässt gerade seinen Computer runterfahren, als Silvia Haman ihren Kopf in die Tür steckt.
»Ich komm gerade aus Heide zurück. In keinem Fotoladen wurden Schwarz-Weiß-Abzüge in Auftrag gegeben.«
»In Husum dito«, entgegnet Swensen. »Aber wir wissen in der Zwischenzeit, wer die vermeintliche Tote ist. Du kommst also wie gerufen. In fünf Minuten trifft sich unsere Truppe zum Gespräch.«
»Ich komme sofort.«
Sie eilt auf ihr Büro zu, während Swensen sich schon auf den Weg in die Küche macht um sich einen Tee aufzubrühen. Aber die Packung grüner Tee ist leer, er muss also noch mal in sein Büro zurück, denn dort liegt noch eine Schachtel mit Teebeuteln. Als er endlich mit seinem dampfenden Becher in den Konferenzraum kommt, ist er der Letzte.
»Nanu Jan!