Hätschelkind. Wimmer Wilkenloh
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Читать онлайн книгу Hätschelkind - Wimmer Wilkenloh страница 14
Die beiden stellen sich in ihre eingefleischten Positionen und schon wird das erste Netz im rechten Winkel zum Rumpf über die Bordwand gehievt. Dann gleitet es auf der Wasseroberfläche achteraus, das zweite folgt kurze Zeit später. Die Ausleger halten die Netze beiderseits des Kutters. Die Stahltrossen rucken und die beiden schlittenartigen Gestelle an der Öffnung ziehen die Netze unter Wasser. Der Schleppvorgang über den Meeresgrund hat begonnen.
»Ik scheer mi in de Tiet um de Putt.« (Ich kümmere mich in der Zeit um den Topf.)
Peter Müller schnappt sich einen Spachtel und macht sich über die verkrusteten Wände des Kochkessels her. Hinnak Hansen schaut auf die Uhr, geht ins Ruderhaus zurück und dreht das Radio an um den Wetterbericht zu hören. Mit zirka vier Knoten schneidet sich der Kutter jetzt mindestens eineinhalb Stunden durch die ruhige See.
Kurz bevor das Fanggeschirr aufgebracht wird, hat Peter Müller stets ein Kitzeln im Bauch.
»Es ist einfach jedes Mal wieder spannend, wenn der Steert hochkommt«, denkt er, während sich die Stahltrossen mit Krachen auf die Winde wickeln. Beide Netze tauchen gleichzeitig auf und werden hochgehievt. Sie sind berstend voll. Die Krabben rutschen in den Netzbeutel und baumeln in der Sonne. Das tausendfache Kribbeln, Krabbeln und Zappeln erzeugt das typisch knisternde Geräusch. Peter Müller jubelt mit erhobenen Daumen zum Fenster des Ruderhauses hinüber. Er bugsiert das prallvolle Netz über den eisernen Auffangtrichter, löst das Tau am ›Steert‹ und die Krabbenflut rauscht hinein. Mit einem Schlag ist Peter Müllers Hochstimmung auf null. Entgeistert starrt er auf einen bleichen Arm, der aus den quirligen Schalentieren herausragt.
»Schitt! Hinnak! Verdammichter Schitt!«, brüllt er.
»Wat is?«
»Ene Leik! Wi heff ne Leik an Boord!« (Eine Leiche, wir haben eine Leiche an Bord!)
»Wat!!!«
Hinnak Hansen stürzt aus dem Ruderhaus wie von einer Tarantel gestochen. Peter Müller trabt mit rudernden Armen auf und ab und schimpft jetzt auf Hochdeutsch vor sich hin.
»Das darf doch nicht wahr sein, so was! Das hat vor uns noch keiner geschafft. Ne’ Leiche mit dem Netz auffischen, das ist doch gar nicht möglich!«
»Ich würde sagen, eins zu einer Million. Ja, Glück muss der Mensch haben«, ergänzt Hinnak Hansen sarkastisch und schimpft wütend hinterher, »das hat uns jetzt gerade noch gefehlt! Und? Was machen wir?«
»Wieso, was machen wir?«
»Na ja, über Bord damit!«
»Bist du völlig durchgedreht, Hinnak?«
»Weißt du was passiert, wenn wir den Mist hier melden? Wir dürfen unseren gesamten, beschissenen Fang wegschmeißen!«
»Hinnak, jetzt bleib mal ganz ruhig. Willst du die Leiche etwa da rausziehen, wieder über Bord werfen und dann einfach weitermachen?«
Hinnak Hansen steht da wie versteinert, dann dreht er sich abrupt um und geht langsam auf das Ruderhaus zu.
»Schon gut, Peter, schon gut!«, murmelt er.
Eine halbe Stunde später legt sich das Polizeiboot ›Sylt‹ längsschiffs. Es ist dreimal größer als die ›Trude‹. Über eine Trittleiter kommen mehrere Beamte an Bord. Es ist Mittwoch, der 22. November 2000.
* * *
Dunkelbrauner Qualm steigt in einer pulsierenden Schlange vor ihm in den wolkenlosen Himmel. Swensen kann sich wieder an die Müllverbrennungsanlage erinnern, als er seinen rechten Blinker einschaltet. Abfahrt Volkspark, das ist richtig. Er wechselt mit seinem Wagen von der Autobahn auf die Abbiegerspur um in der folgenden Kurve mit dem Motor abzubremsen. Im Vorbeifahren sieht er ein riesiges Wandgemälde an dem grauen Betonkasten. Eine Müllkralle hält die Weltkugel in ihren Fängen. Daneben prangt die Schrift: Wir lassen sie nicht fallen.
Das ist doch wirklich der Zynismus pur, schießt es ihm durch den Kopf, während er beim Abbremsen sachte gegensteuert. Die Ampel steht auf Rot.
Ja der Verstand wertet eben alles was er sieht, sagt im selben Moment seine buddhistische Überzeugung und gleichzeitig hält eine Stimme in guter alter 68er Manier dagegen, aber so ist das eben. Was ist denn eine Müllverbrennungsanlage? Sie versucht Müll zu beseitigen und verteilt ihn dabei nur in der Luft. Der Müll hat sich zwar in Luft aufgelöst, ist aber immer noch da! Der Buddhist bleibt gelassen. Der Müll wandelt wie alle Materie nur seine Form! So funktioniert sie eben, die ewige Verkettung von Ursache und Bedingung. Ursachen ziehen Folgen nach sich und der Mensch steckt da mitten drin. Er hat sich in der Tat für diese Müllverbrennung entschieden und Taten bringen nicht nur Glück, sondern auch Leid hervor, Herr Hauptkommissar.
In Hamburg kennt er sich aus wie in seiner Westentasche, obwohl seine Dienstzeit bereits sieben Jahre zurückliegt. Jetzt links, dann immer geradeaus bis zur Kreuzung Bornkampsweg, dann links in die Stresemannstraße und an der liegt schon die Polizeidirektion Hamburg West. Kaum ist er allerdings einige hundert Meter stadteinwärts gefahren, ist wieder Schluss. Nichts geht mehr. Stau.
Swensen lehnt sich zurück und beginnt, wie immer in so einer Lage, sofort mit einer Atemübung. Er lässt die Luft konzentriert ein und aus fließen. Das Klingeln seines Handys beendet die Entspannung, bevor sie noch richtig begonnen hat. Da sich auf der Straße sowieso nichts bewegt, drückt er auf Empfang.
»Swensen!«
»Sind Sie es, Herr Swensen? Ich kann Sie schlecht verstehen!« Susan Biehls Klostergesang klingt wie ein Anruf aus dem Vatikan.
»Ja ich bin’s! Ich versteh’ Sie gut! Können Sie mich hören?«
Swensen dreht sich um hundertachtzig Grad und schmunzelt über die immer absurdere Kommunikation.
»Gerade so. Aber es geht! Wo sind Sie denn bloß?«
»Ich bin in Hamburg. Hollmann hat mich gestern Abend noch angerufen. Er war sich ziemlich sicher, dass dieser Fotograf, der uns die Bilder der Leiche geschickt hat, aus Hamburg kommt. Da hab ich mich heute Morgen gleich auf die Socken gemacht, zumal meine alte Abteilung hier mir Hilfe zugesagt hat. Und was ist bei euch los?«
»Wichtige Neuigkeiten! Frau Haman hat den alten Freund der Herbst ausfindig gemacht und ist zur Vernehmung hin. Und Herr Mielke ist im Hafen. Ein Krabbenkutter hat eine Leiche rausgezogen.«
»Eine Frauenleiche?«
»Ja.«
»Mensch Susan, nun lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen! Ist es Edda Herbst?«
»Weiß man noch nicht. Herr Mielke ist gerade erst los. Der Chef hat Staatsanwalt Dr. Rebinger benachrichtigt und will um halb sechs eine Pressekonferenz abhalten. Er wünscht, dass Sie dabei sind.«
»I do my very best! Ich beeil’ mich! Bis dann!«
»Bis dann!«
Die Autos stehen weiterhin wie festgeschraubt. Swensen lehnt sich zurück, entspannt sich und besinnt sich auf seine Atemübung.
»Ich atme ein und fühle mich ruhig. Ich atme aus