Die Stunde der Wahrheit. Christian Macharski
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Stunde der Wahrheit - Christian Macharski страница 9
Als Borowka an diesem Morgen an die Theke trat, war Regina gerade wieder mit einer ihrer Kernkompetenzen beschäftigt: Sie feilte ihre Nägel. Gelangweilt sagte sie: „Na, Richard. Was ist denn mit dir los? Du siehst ja total kaputt aus.“
„Kein Wunder“, antwortete Borowka, „ich hab ja auch eine heiße Nacht hinter mir.“
Regina legte die Nagelfeile aus der Hand und sah ihn mit ihren großen, aufwendig geschminkten Augen an. Jetzt schien ihr Interesse geweckt. „Ach was?“, flötete sie und klimperte dabei mit den Wimpern. „Eine heiße Nacht? Du meinst …“
„Ja, genau – Schlafzimmer im Dachgeschoss.“
Regina verdrehte die Augen und feilte weiter. „Außerdem bin ich total gestresst“, fuhr Borowka fort und wedelte dabei mit einem gelben Schein. „Ich musste der Fredi heute Morgen um sieben Uhr zu Dr. Hoppe fahren, weil der sich nicht bewegen kann. Der ist nämlich schwer verletzt.“
„Wie bitte?“ Regina ließ entsetzt die Feile fallen. „Heißt das, dass ich heute der ganze Tag am Telefon gehen muss?“
„Nicht nur heute“, erwiderte Borowka mit kaum verhohlener Schadenfreude. „Der Dr. Hoppe meint, das wird noch was länger dauern. Ich bring dem Alten mal die Krankmeldung rein.“
Schnurstracks ging Borowka auf das Büro von Heribert Oellers zu und passierte dabei den mit Ordnern, Katalogen und Rechnungen zugepflasterten Schreibtisch von Fredi Jaspers. Durch die geschlossene Tür hörte er Oellers bereits mit lauter Stimme palavern. Er klopfte kurz an und betrat dann einfach das Büro, da Heribert Oellers nicht zu Höflichkeiten wie „Herein“-Rufen neigte.
Als Borowka eintrat, sah und vor allem hörte er, dass sein Chef gerade ein engagiertes telefonisches Kundengespräch führte. Mit knallrotem Kopf brüllte er in den Hörer: „Dann rufen Sie doch Ihr Anwalt an! Wenn der genauso ein Blödspaten ist wie Sie, dann aber gute Nacht … Ja, selber Arschloch!“ Er schmiss den Hörer auf die Gabel und blickte von seinem wuchtigen Schreibtisch auf. „Und was kann ich für dich tun? Haben se dich wieder geschickt, für Ersatzluftblasen für die Wasserwaage zu holen?“
Borowka musste lachen. „Nee, Quatsch, Chef. Das weiß ich ja mittlerweile, dass es die nicht gibt. Genauso wenig wie die Wasserstrahlbiegezange und die Unterputzfräse.“
„Komm aufen Punkt, Junge, oder meinst du, ich bezahl dich dafür, dass du mich hier in die Bewusstlosigkeit quatschst? Dafür ist dein Frisör zuständig. Wo du übrigens auch mal wieder hingehen könntest. Du siehst aus wie ein zerrupftes Perückenschaf, das se auf der Weide zurückgelassen haben zum Sterben, weil es so hässlich ist. Hat dir eigentlich noch keiner verraten, dass deine Frisur schon seit die 90er-Jahre ausgestorben ist?“
„Also, Rita gefällt es. Die sagt immer, von hinten seh ich aus wie dieser eine Filmstar. Wie heißt der noch? Der mit die blonden Haare, der hat mitgespielt in …“
Oellers sprang auf und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. Sein Tonfall wurde barscher: „Sag mal, was genau hast du an der Satz ,Komm aufen Punkt‘ nicht verstanden?“
„Ach ja, klar, ‘tschuldigung“, beschwichtigte Borowka und kramte aus der kleinen Tasche, die sich oben an seiner Arbeitslatzhose befand, den gelben Krankenschein hervor, den er dort hineingestopft hatte, nachdem er ihn Regina gezeigt hatte.
Als Oellers mit geschultem Auge sofort erkannte, um was für ein Dokument es sich handelte, begann seine Halsschlagader zu pochen und seine Gesichtsfarbe wechselte augenblicklich zu puterrot. Sein Adamsapfel sprang wild auf und ab, als er losbrüllte: „Jetzt reicht es mir aber, du mieser, kleiner Grottenolm. Ich steck dir jetzt auf der Stelle mein Regenschirm im Hintern und spann den auf. Dich haben se ja wohl mit der Hammer getauft. Kommst hier rein mit ein gelber Schein, obwohl du das letzte halbe Jahr öfters krankgeschrieben warst wie die Deutsche Bahn Verspätung hat …“
„Nee, Moment …“ wollte Borowka dazwischengehen, aber Oellers hatte sich bereits in Rage geredet.
„Ich bin noch nicht fertig, Kartoffelnase, oder hat einer die Null gewählt, dass du dich meldest? Du dämlicher Idiot. Ach, was sag ich? Dich als Idiot zu bezeichnen, ist eine Beleidigung für alle dummen Menschen auf dieser Welt. Wenn Doofheit ein Verbrechen wär, dann hättest du lebenslänglich mit Sicherungsverwahrung. Wie kann man nur so dreist sein? Langsam glaub ich wirklich, dass deine Eltern Chemiker waren. Du musst doch ein Versuch gewesen sein. Du bist echt was Besonderes. Und zwar ein besonders großes Arschloch!“
Oellers hielt kurz inne und riss die Schublade an seinem Schreibtisch auf. Für einen kurzen Moment glaubte Borowka ernsthaft, er würde dort einen Revolver herausziehen, um ihn zu erschießen, aber es handelte sich nur um ein Pillendöschen. Hektisch warf Oellers sich drei kleine rote Tabletten in den Mund und spülte sie mit einem Glas abgestandener Cola runter, das auf dem Tisch stand. Diesen kurzen Moment der inneren Einkehr nutzte Borowka und rief:
„Das ist ein Missverständnis, Chef. Ich bin kerngesund. Die Krankschreibung ist von der Fredi.“
Oellers starrte ihn überrascht an, blieb aber dennoch wie ein Gorillamännchen in Angriffshaltung mit seinen auf den Tisch gestützten Armen stehen. Leicht irritiert entgegnete er: „Wie, Fredi? Der feiert doch so gut wie nie krank.“
„Das ist richtig. Aber gestern beim Spiel gegen Krautdorf hat es ihn ziemlich übel erwischt.“
„Kreuzbandriss?“
„Schlimmer!“
„Schien- und Wadenbeinbruch?“
„Schlimmer!“
„Syndesmösenriss?“
„Noch schlimmer!“
„Sag mal, bin ich hier bei ,Der große Preis‘ oder was? Sag mir jetzt sofort, was der Trottel hat, sonst hau ich dir der Kopf auf den Rücken, dass du aussem Rucksack fressen kannst“, platzte es aus Oellers heraus und Borowka wiegelte erschrocken mit beiden Armen ab.
„Ist ja gut. Also, der hat beim Freistoß der Ball … also der stand genau in die Schusslinie … und wollte gerade eine Mücke verscheuchen … und der Ball ging … wie soll ich das sagen … direkt unter die Latte.“
Oellers ließ sich matt in seinen schweren Ledersessel fallen. „Ach du Scheiße.