Die Höhle des Löwen. Christian Macharski
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Hauptkommissar Peter Kleinheinz war zusammengezuckt, als die Scheibenwischer sich plötzlich wie von Geisterhand in Bewegung setzten. Der Regensensor hinter der Frontscheibe hatte als Erster registriert, dass sich am Himmel etwas zusammenbraute. Kurz nachdem Kleinheinz sich auf den Weg in seine neue Wahlheimat Saffelen gemacht hatte, waren innerhalb von Minuten schwere Wolken aufgezogen und es hatte wie aus Kübeln zu regnen begonnen. Mittlerweile ächzten die Scheibenwischer auf der höchsten Stufe und Kleinheinz hatte große Probleme, die Landstraße vor sich zu erkennen. Mit 50 km/h kroch er durch die dunstige Wand der einsetzenden Dämmerung, die nur von dünnem Scheinwerferlicht durchschnitten wurde. Irgendwie passte das zu diesem beschissenen Tag, dachte der Kommissar. Eigentlich sollte er zu diesem Zeitpunkt noch mit seinem Kollegen Jochen Dohmen in einem Zivilfahrzeug vor einem unscheinbaren Bürokomplex in Übach-Palenberg sitzen und eine Zielperson observieren. Bereits seit zwei Wochen waren sie einem Mann auf der Spur, der des bandenmäßigen Handels mit Amphetaminen verdächtigt wurde. Hinweisen zufolge sollte in der heutigen Nacht in ebendiesem Bürogebäude ein größerer Deal über die Bühne gehen. Doch dann war der Einsatz plötzlich um 19 Uhr von August Pimpertz, dem Direktionsleiter Kriminalität, persönlich abgeblasen worden. Angeblich sei die Zielperson gewarnt worden. Genaueres erfuhr man wie üblich nicht, Pimpertz galt nicht gerade als großer Kommunikator und mit Kleinheinz verband ihn ohnehin keine allzu große Sympathie. Ohne weitere Erklärung wurden Kleinheinz und Dohmen also zur Dienststelle zurückbeordert und in den Feierabend geschickt. Dohmen hatte sich sehr über die unerwartete Freizeit gefreut, da er nun doch noch das DFB-Pokalfinale zwischen Bayern München und Borussia Dortmund würde verfolgen können. Kleinheinz hingegen konnte Fußball nicht das Geringste abgewinnen. Er war stattdessen noch mal ins Büro gefahren, um einen Bericht zu Ende zu schreiben. Mehrmals hatte er dabei versucht, seine Lebensgefährtin Bettina Hebbel zu erreichen, um sie zu fragen, ob sie nicht nach Heinsberg kommen wolle, um dort mit ihm bei dem Italiener, der neu aufgemacht hatte, essen zu gehen. Aber entweder war der Empfang im Saffelener Neubaugebiet mal wieder miserabel oder sie hatte ihr Handy ausgestellt. Vielleicht war sie auch schon ins Bett gegangen. In letzter Zeit hatte sie des Öfteren über Müdigkeit geklagt. Vor allem, wenn Kleinheinz den Wunsch nach etwas körperlicher Nähe geäußert hatte. Im Moment lief es privat nicht allzu gut, was wohl auch daran lag, dass Kleinheinz sich wieder mit größtem Enthusiasmus seiner Arbeit widmete, nachdem die letzten Jahre ihn ein wenig aus der Bahn geworfen hatten. Bettinas Verständnis für diesen Arbeitseifer hielt sich in Grenzen und äußerte sich in letzter Zeit immer häufiger in kleinen Streitereien.
Kleinheinz schreckte von seinem eigenen Seufzer aus seinen Gedanken hoch und atmete einmal kräftig durch. Das monotone Rauschen der Scheibenwischer hatte ihn schläfrig werden lassen. Er riss sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Der Regen prasselte unaufhörlich auf die Windschutzscheibe, doch am Horizont war zumindest schon die Skyline von Saffelen zu erkennen, jedenfalls der leicht schiefe Kirchturm, der sich den tief hängenden, böse grollenden Wolken tapfer entgegenreckte. Als Kleinheinz mit seinem Wagen wenig später die Gaststätte Harry Aretz passierte, drangen laute Schlachtgesänge an sein Ohr, woraus er schloss, dass auch ein Großteil der Saffelener Bevölkerung beim Pokalfinale mitfieberte. Das Neubaugebiet hingegen lag wie immer ausgestorben vor ihm, als er in die Goethegasse einbog. Aufgrund des Namens „Goethegasse“, gegen den sich Ortsvorsteher Hastenraths Will, einer der wenigen Freunde von Kleinheinz, lange gewehrt hatte, trug das Neubaugebiet unter den alteingesessenen Dorfbewohnern bereits den Beinamen „Besserwisser-Viertel“. Dass mit Bettina Hebbel und Peter Haselheim, dem Rektor der Grundschule, gleich zwei Lehrer dort wohnten, machte die Sache aus Wills Sicht nicht besser.
Als Kleinheinz den Wagen vor seinem neuen Zuhause parkte, tanzte das Scheinwerferlicht über die Fassade des Hauses. Er stellte den Motor ab und stellte fest, dass oben im Schlafzimmer Licht brannte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, denn Bettina schien noch wach zu sein. Um das kurze Stück durch den Vorgarten halbwegs trocken hinter sich zu bringen, legte sich der Kommissar seine Windjacke über den Kopf. An der Haustür angekommen, schüttelte er sich und schloss auf. Die nassen Schuhe quietschten im Flur, als er eintrat. Er wollte gerade zum Lichtschalter greifen, doch plötzlich musste er innehalten. Alles war ruhig, aber sein Instinkt sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte. Geräuschlos streifte er die Schuhe ab und schlich auf Socken durch den Flur. Am Geländer der Treppe, die nach oben führte, lauschte er. Er meinte, leises Gemurmel zu hören, was aber auch vom Fernseher kommen konnte. Während er auf Zehenspitzen die Treppe hinaufstieg, atmete er kaum. Immer mehr überkam ihn das Gefühl, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Ein unbekannter Geruch stieg ihm in die Nase. Er versuchte weiter zu lauschen, doch sein Herzschlag übertönte alle anderen Geräusche im Haus. Als er vor der Schlafzimmertür stand, legte er vorsichtig sein Ohr dagegen. Trotz des Unwetters, das draußen tobte, verstand er jedes einzelne Wort, das Bettina sagte und es traf ihn wie ein Blitzschlag: „Es ist so schön, dass du hier bist.“
Kleinheinz’ Muskeln krampften sich zusammen und er konnte förmlich spüren, wie sich sein Körper mit Adrenalin vollpumpte. Wutentbrannt riss er die Tür auf. Sein Hirn brauchte einige Sekunden, bis es die Situation erfasst hatte. Bettina saß nackt mit dem Rücken zu ihm auf dem aufgeschlagenen Bett und stöhnte leise. Dann entdeckte Kleinheinz den nackten Mann, der unter ihr lag. Bettina riss erschrocken den Kopf herum. Als sie ihren Freund sah, sprang sie auf und schrie hysterisch: „O nein, Peter! Ich kann dir alles erklären!“ Doch Kleinheinz brauchte keine Erklärungen mehr. Das Blut peitschte durch seinen Körper, sein Herz raste und eine unbändige Wut ergriff von ihm Besitz. Als Bettina mit weit aufgerissenen Augen um Hilfe schrie, konnte er sie schon garnicht mehr hören, so sehr hatte der Zorn das Kommando übernommen. Wie in Trance riss er seine Dienstwaffe aus dem Holster und richtete sie auf die beiden Personen, die er vor sich sah. Die Welt, in der Peter Kleinheinz gelebt hatte, hatte aufgehört zu existieren.
2
Die Flasche Dujardin war genauso leer wie die beiden Tüten Chips, die auf dem Wohnzimmertisch lagen. Hastenraths Will streckte sich ausgiebig in seinem Ohrensessel, strich sich dabei zufrieden über seinen leicht gewölbten Bauch und ließ einen lauten Rülpser entweichen. Was für ein perfekter Abend, dachte der Landwirt. Nicht nur, dass Bayern München mit 2: 5 gegen Borussia Dortmund verloren hatte, sondern, vor allem, dass er das Spiel in aller Ruhe hatte genießen können. Letzteres lag neben dem abgestellten Telefon vor allem an der Abwesenheit seiner Frau Marlene, mit der er seit 30 Jahren verheiratet war und der es auch nach all der Zeit noch gelang, den einfachen Genuss eines Fußballspiels nachhaltig zu stören. Sei es, indem sie zwischendurch immer mal wieder unmotiviert durchs Bild lief, laut schnarchte oder unpassende Fußballfragen stellte. Etwa, warum Arjen Robben immer so enge Trikots trägt, wieso die Frisur von Mario Gomez so gut hält oder wo Jogi Löw seine Schals herbekommt. Heute aber hatte sich Will voll und ganz auf das Spiel konzentrieren können, denn Marlene hatte sich pünktlich zum Anpfiff krankgemeldet. Bewaffnet mit einer Packung Wick Vaporup, einer Flasche Klosterfrau Melissengeist und Jack-Russell-Terrier Knuffi als Fußwärmer, war sie um 20 Uhr ins Bett gegangen, um der sich anbahnenden Erkältung zu trotzen. Will griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Nachdem die Stadionatmosphäre verstummt war, hörte er, dass seine Frau ihn rief. So schwach, wie die Stimme klang, schien sie durchaus schon seit einer ganzen Weile zu rufen. Behäbig schälte er sich aus dem Sessel und schlurfte auf abgewetzten Wollsocken die Treppe hinauf. Gähnend öffnete er die Schlafzimmertür.
„Was ist denn los, Marlene?“
Seine Frau saß halb aufgerichtet im Bett und schniefte mit roter Nase: „Musst du der Fernseher immer so laut machen? Ich brüll mir hier die Seele aus der Leib. Der Knuffi muss dringend noch mal raus.“
Wills Blick fiel auf den kleinen Hund, der junkend vor dem Bett Pirouetten drehte. Es schien dringend zu sein. Der