Alpendohle. Swen Ennullat
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Torben, der jedes Wort regelrecht aufsog, musste Reiher etwas verwirrt angesehen haben, denn der ergänzte sofort: „Ich kann das sagen, weil ich Ihren Großvater am 30. April 1945 im Führerbunker getroffen habe. Wir hatten jedoch keine Gelegenheit, miteinander zu reden. Ich weiß nicht, was er dort gemacht hat, ich kann es nur vermuten.“
Das obligatorische Notizbuch eines Journalisten zückend, fragte Torben: „Was meinen Sie damit, er war im Führerbunker, und was glauben Sie, wollte er dort?“
„Ich bin Hans am 30. April 1945 gegen drei Uhr nachmittags im Treppenhaus des Bunkers begegnet. Ich weiß das so genau, weil die nächsten Stunden, ach, was sage ich, die nächsten Tage sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt haben. Ich habe ihn im ersten Moment gar nicht erkannt, da er zivile Kleidung trug. Damals erschrak ich, weil ich dachte, er sei desertiert. Aber er war in Begleitung eines schmalen Bürschchens, das auch keine Uniform anhatte, und von SS-Leuten, die ihn verhaftet haben konnten, war nichts zu sehen. Hans war ganz genauso verblüfft, mich dort zu treffen. Er fing sich aber schneller als ich, hielt kurz an, während sein Begleiter an uns vorbeieilte, nahm meine Hand und sagte: ‚So Gott will, werden wir das hier überleben. Viel Glück, Konrad!‘ Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er meine Hand auch schon losgelassen und die nächsten Stufen in Richtung Ausgang genommen. Mich ließ er mit tausend Fragen zurück, die mir durch den Kopf schossen. Sechs Stunden später kannte ich die Antworten oder hatte zumindest eine Vermutung.“
„Wie meinen Sie das, Sie hatten eine Vermutung? Und wer war der Begleiter meines Großvaters?“, bohrte Torben weiter.
„Ich werde alle Ihre Fragen beantworten, aber bitte der Reihe nach“, erwiderte Reiher. „Seinen Begleiter kannte ich nicht. Er trug Mantel und Hut. Sein Gesicht war mit Ruß bedeckt. Er schien aber – sagen wir mal – recht zart zu sein.“ Er lachte. „Sie haben zum Schluss alle, die noch greifbar waren, in den Volkssturm gesteckt. Hitlerjungen waren dabei besonders leicht zu lenken. Sie haben nämlich noch an den Endsieg geglaubt. Zum Schluss waren wir – Soldaten, Volkssturm und Freikorps – vielleicht hunderttausend schlecht bewaffnete Männer und sogar Frauen, die Berlin verteidigt haben. Uns standen aber mehr als zwei Millionen russische Soldaten und Tausende Panzer gegenüber. Mein eigener Vater hatte sich einige Tage zuvor, wie viele Parteifunktionäre, noch dem ‚Freikorps Adolf Hitler‘ angeschlossen. Er wurde aber – das erfuhr ich zufällig – schon kurz darauf verwundet und befand sich in Begleitung meiner Mutter im Lazarett des Luftschutzkellers der Reichskanzlei. Ich nehme an, dass er dort mit irgendeinem ranghohen Offizier gesprochen und diesen gebeten hat, seinen Sohn von der Front abzuziehen, denn am 30. April 1945 erhielt ich Befehl, mich im Führerbunker zu melden. Der Bunker konnte zum einen vom Keller der Reichskanzlei, in dem sich ja meine Eltern befanden, und zum anderen über eine Treppe vom Garten erreicht werden, obwohl nicht mehr viel übrig war, was man noch Garten hätte nennen können.“ Reiher stieß ein gequältes Lachen aus. „In den Bombentrichtern wurden nämlich die Leichen aus dem Lazarett verscharrt.“
Torben, der sich diese Szenerie gerade bildlich vorstellte, schluckte kurz und hörte Reiher weiter zu.
„Ihrem Großvater begegnete ich in eben diesem Treppenhaus zum Garten. Wenige Augenblicke danach führte mich ein Wachhabender durch einen etwa zwölf Meter unter der Erde gebauten und mit rotem Teppich ausgelegten Korridor an einigen Ordonnanzen vorbei in eine kleine Wachstube. Auf dem Weg dorthin bemerkte ich rechter Hand einen Raum, der offenbar als Besprechungszimmer diente. Darin befanden sich vielleicht ein halbes Dutzend Offiziere, die sich lautstark unterhielten. Ich konnte aber nicht erkennen, um wen es sich handelte. Ich selbst bekam dann nur eine Aufgabe, zu warten! Und zwar, bis für mich eine passende Verwendung gefunden worden wäre. Man setzte mich in die Wachstube, einen kleinen Raum von vielleicht zwölf Quadratmetern Größe, der so feucht war wie der gesamte Bunker an sich. Irgendwie hatte ich mir das Domizil des Führers erhabener vorgestellt. Ich zermarterte mir gerade das Hirn, warum man gerade mich und wofür ausgewählt hatte, als ich etwa eine halbe Stunde später und trotz des Artilleriefeuers, das man ständig hörte, so etwas wie einen dumpfen Knall vernahm.“
Torben, der es schon seit einiger Zeit nicht mehr auf der Gartenbank ausgehalten hatte und hin und her lief, unterbrach den ehemaligen Wehrmachtssoldaten: „Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, dass Sie dabei waren oder, um es genauer auszudrücken, gehört haben, wie Hitler sich erschoss?“
Reiher sah direkt in Torbens Augen und sagte mit ruhiger Stimme: „Doch, mein Junge, genau das versuche ich Ihnen beizubringen. Und Ihr Großvater war höchstwahrscheinlich in der Stunde vor dem Tod des Führers bei ihm.“
Torben schüttelte ungläubig den Kopf, weil er nicht wahrhaben wollte, dass dieser sanfte Mann, den er sein ganzes Leben gekannt hatte, ein solch enges Verhältnis zu Adolf Hitler gehabt haben sollte.
Reiher, der anscheinend seine Gedanken erahnte, fuhr mit seinen Ausführungen fort: „Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, weder ihr Großvater noch ich selbst waren Kriegsverbrecher, die in besonderen Diensten des Führers standen. Ich bin der Überzeugung, dass wir nur zufällig ausgewählt wurden.“
Torben – immer noch zweifelnd – fiel ihm ins Wort: „Aber wofür?“
„Das will ich Ihnen doch die ganze Zeit sagen. Aber Sie wollen ja nicht zuhören! Oder kann ich jetzt weitererzählen?“, erwiderte Reiher.
Torben konnte nur stumm nicken und setzte sich, bereits jetzt innerlich erschöpft, wieder hin.
„Nach diesem Knall, Schuss oder was auch immer, wurde es sehr hektisch im Führerbunker. Was genau vor sich ging, weiß ich nicht, da ein SS-Mann dafür sorgte, dass ich in der Wachstube blieb. Diese grenzte allerdings an die Telefonzentrale und ich konnte einige Gesprächsfetzen auffangen. Irgendwann wurde mir klar, dass man von Hitlers Tod sprach. In diesem Moment wusste ich zwar, dass der Kampf endgültig verloren war, ich wollte es jedoch nicht wahrhaben. Ich fühlte mich so verloren. Ich war unendlich traurig und doch auch stolz auf den Führer, dass er sich nicht hatte lebend gefangen nehmen lassen. Er hatte sich quasi für Deutschland geopfert; ein Weg, den ich in diesem Moment auch beschreiten wollte. Sie werden jetzt sicherlich denken, ich wäre ein Alt-Nazi oder so etwas. Weder stimmt das, noch spielt es irgendeine Rolle, aber damals in diesem Bunker brach meine kleine Welt, wie ich sie kannte, auseinander.“
Jetzt war es Reiher, den seine eigene Erzählung sichtlich mitnahm. Er sah noch älter aus, als er war. Dennoch fuhr er fort: „Mit der Zeit beruhigte ich mich etwas und nach ein paar Stunden führte man mich in ein kleines Arbeitszimmer. Dort traf ich auf Martin Bormann, Reichsleiter und Sekretär Adolf Hitlers. Er brauchte sich nicht vorzustellen. Jeder wusste, was das für ein machthungriges Schwein war. Selbst in dieser ernsten Situation versicherte er sich zuerst in der herablassenden und arroganten Art, die ihm eigen war, ob mein Name Konrad Reiher sei. Als ich bejahte, teilte er mir mit, dass das Großdeutsche Reich einen neuen Kanzler namens Joseph