Alpendohle. Swen Ennullat

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Alpendohle - Swen Ennullat

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so – wieder einmal um einige Illusionen ärmer – habe ich unlängst beschlossen, in den sofortigen Ruhestand zu treten. Die Entscheidung fiel mir zumindest in finanzieller Hinsicht leicht, da ich vor einigen Jahren das ausgesprochene Glück hatte, eine größere Erbschaft anzutreten. Einen solchen Vorgang kann ich jedem nur empfehlen.“

      Torben, der dem Professor aufmerksam zugehört hatte, sagte: „Ich bedauere sehr, wie man mit Ihnen umgegangen ist, George. Die Frage ist aber nun, ob Sie bereit sind, mir zu helfen, denn mir persönlich ist es völlig egal, ob Sie noch eine Professur innehaben oder nicht!“

      Das Gesicht des Professors hellte sich augenblicklich auf und er erwiderte: „Sie haben recht, Torben! Es ist töricht, Trübsal zu blasen und ewig einer verflossenen Liebe nachzuweinen! Die Devise muss lauten: Auf zu neuen Ufern! Also, Sie halten mit diesem Buch eine unglaubliche Chance in der Hand, das Ende und womöglich das Erbe eines der größten Diktatoren der Geschichte der Menschheit etwas aufzuhellen. Ich verfüge zwar über keine Mitarbeiter mehr, die mich bei meinen Forschungsarbeiten unterstützen, aber wir, ich meine damit Gertrud und mich“, er streichelte der inzwischen deutlich gelangweilten kleinen Hundelady den Kopf, „würden uns freuen, wenn wir Ihnen bei Ihren Nachforschungen helfen können. Und außerdem wird das – sollten wir erfolgreich sein – meinen früheren Arbeitgeber ziemlich verärgern.“

      Der Professor lachte erneut, setzte zum Weiterlaufen an und reichte Torben das Buch. „Hier, nehmen Sie es zurück! Die Widmung habe ich mir sowieso gemerkt. Es gehört ja Ihnen, aber achten Sie gut darauf. Wir werden den Wälzer bestimmt noch brauchen. Um das Rätsel zu lösen, schlage ich vor, dass wir uns erst einmal gedanklich in die letzten Kriegstage zurückbegeben. Meinen Sie nicht auch?“

      Torben, der gerade unter den neugierigen Blicken Gertruds, die wohl auf ein Leckerli hoffte, sein Buch verstaute, nickte kurz als Zeichen der Zustimmung.

      Der Professor, abermals gut gelaunt und voller Elan und Tatendrang, hatte nun endlich wieder die Gelegenheit, sein lebenslang erworbenes Wissen über das Dritte Reich und den Nationalsozialismus weiterzugeben, und es bereitete ihm großes Vergnügen. Fast schon theatralisch setzte er an: „Beginnen wir also mit der ersten Unterrichtsstunde! Sie hätten keinen besseren Ort für den Anfang unserer Reise in die Geschichte wählen können!“

      Professor Meinert und Torben gingen langsam zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals hindurch. Weil nicht genügend Platz war, mussten sie hintereinander laufen. Torben sah, wie der Professor ab und an seine Hand über die Steinquader gleiten ließ.

      „Waren Sie jemals vorher hier, mein junger Freund?“, fragte er ihn, während er sich umdrehte.

      „Nun ja“, gab Torben etwas verlegen zu, „ich habe zwar eine Wohnung im Wedding, aber ich bin viel unterwegs und verbringe wenig Zeit in Berlin. Um ehrlich zu sein, ich habe mir das Mahnmal noch nie richtig angeschaut.“

      Professor Meinert hatte nicht vor, ihn zu kritisieren. „Das ist nicht schlimm! Ich verstehe das, Sie sind ein junger Mensch und voller Leben. Der Tod sollte Sie jetzt noch nicht beschäftigen.“ Nach einer kurzen Pause sprach er weiter: „Dieses Mahnmal erinnert an eines der dunkelsten Kapitel des Dritten Reiches. Ich will Ihnen nichts vormachen, vielleicht müssen wir uns genau mit diesen Dingen auseinandersetzen.“

      Gertrud, die jetzt etwas ängstlich schien, was nicht verwunderlich war, da die Stelen bisweilen selbst die beiden Männer überragten, wurde vom Professor auf den Arm genommen. „Es sind übrigens zweitausendsiebenhundertelf Betonpfeiler, die in parallelen Reihen auf einer Fläche von fast zwei Hektar aufgestellt wurden. Jeder der grauen Pfeiler ist etwa einen Meter breit und zweieinhalb Meter lang.“ Jetzt kam bei ihm doch noch der Stadtführer durch. „Die Höhen reichen von zwanzig Zentimetern bis fast fünf Meter. Wie Sie vielleicht erkennen können, ist das Stelenfeld sanft, aber unregelmäßig geneigt. Optisch ergeben die Steine eine Welle“, klärte der Professor Torben auf. „Die Quader sind nur der sichtbare Teil des Mahnmals. Zu dem Komplex gehört auch ein unterirdisches Museum mit einer Namensliste der bekannten jüdischen Holocaustopfer. Die Stelen sollen wohl an Grabsteine erinnern, da Ähnlichkeiten zu den Sarkophag-Gräbern jüdischer Friedhöfe bestehen. Aber nicht einmal bei der Eröffnung 2005 gab es eine offizielle Interpretation der Architektur, nur verschiedene Deutungen. Wissen Sie, nicht nur deshalb ist die Gedenkstätte umstritten“, führte er weiter aus. „Der Holocaust hat nicht nur Juden, sondern auch andere Opfergruppen hinweggerafft. Es hätte auch ein gemeinsames Mahnmal geben können. Um es zu finanzieren, wurde zudem bei anderen Gedenkstätten rigoros gestrichen. Die Hälfte der Stelen wies überdies bereits nach drei Jahren Risse auf und etliche werden deshalb jetzt mit Stahlbändern gesichert. Auch die Bauarbeiten wurden seinerzeit einmal unterbrochen, als bekannt wurde, dass der Anti-Graffiti-Schutz der Stelen – offensichtlich ist so eine Versiegelung in Berlin vonnöten – durch die Degussa AG aufgetragen werden sollte. Deren Tochterfirma Degesch hatte im Dritten Reich das Giftgas Zyklon B hergestellt, mit dem die Juden in den Konzentrationslagern vergast wurden.“ Er schüttelte den Kopf. „Manchmal verstehe ich nicht, wie unsensibel und unwissend Menschen sein können. Aber genug davon, wir sind an der Stelle angekommen, die ich Ihnen zeigen wollte.“

      Sie hatten den südlichen Rand des Stelenfeldes erreicht und der Professor zeigte in Richtung einiger Bäume. „Nicht einmal hundert Meter von hier in dieser Richtung lag der Führerbunker im Garten der alten Reichskanzlei an der Wilhelmstraße.“ Torben zog hörbar die Luft ein.

      Professor Meinert dozierte indes munter weiter: „Der Bunker wurde niemals ganz fertiggestellt. Es gab einen Vorbunker, der einhundertfünfzig Menschen Platz bot, und einen Hauptbunker mit zwanzig Zimmern. Wenn Sie glauben, dass er luxuriös eingerichtet war, dann irren Sie. Selbst Hitler musste auf nackte Betonwände starren. Wegen der Baumängel drang ferner ständig Wasser ein, das kontinuierlich abgepumpt werden musste. Nach dem Krieg wurde mehrfach, ohne großen Erfolg versucht, den Bunker zu sprengen. Und da er nach dem Bau der Berliner Mauer im Todesstreifen lag, hat ihn die DDR-Regierung letztendlich mit Schutt auffüllen und planieren lassen. Wir können also unsere Suche nach Erkenntnis nicht dort beginnen.“

      Der Professor ließ seinen Blick noch kurz schweifen und fragte dann an Torben gewandt: „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber Gertrud und ich möchten nach all dem Beton mal etwas mehr vom neuen Grün des Frühlings sehen. Was halten Sie davon, wenn wir unseren Weg in Richtung Großer Tiergarten fortsetzen?“

      Torben stimmte zu und gemeinsam liefen sie an der Außenseite des Mahnmals entlang in Richtung der drittgrößten Parkanlage Deutschlands. Jetzt, da sie erneut nebeneinander gehen konnten, wurde ihr Gespräch wieder intensiver.

      „Die Beschreibung, die der Freund Ihres Großvaters gab, lässt mich vermuten, dass er tatsächlich im Führerbunker war. Es gab wirklich eine Wachstube neben der Telefonzentrale, in der er gewartet haben könnte. Und rechtsseitig im Korridor, der – auch das stimmt – mit einem roten Teppich ausgelegt war, konnte man über Besprechungs- bzw. Konferenzräume in die Privatgemächer Hitlers gelangen. Auch Martin Bormann, Privatsekretär und Chef der Reichskanzlei, war am Ende dort und versuchte zu retten, was noch zu retten war.“

      Torben zauberte sein Notizbuch hervor und fragte: „Kann ich mir Notizen machen?“

      „Aber ich bitte darum!“, antwortete Professor Meinert lächelnd und setzte fort: „Bormann hat die letzten Kriegstage und alle Geschehnisse penibel für die Nachwelt dokumentiert. Fast jeden von Hitlers Sätzen hat er wortwörtlich aufgeschrieben. Durch seine Aufzeichnungen konnte auch nachgewiesen werden, wer und zu welchem Zeitpunkt im Führerbunker anwesend war oder welche Befehle in den letzten Tagen noch erteilt wurden. Bormann wäre aber auch der Einzige gewesen, der dafür hätte Sorge tragen können, dass bestimmte Informationen nicht dokumentiert wurden und damit für immer geheim bleiben konnten. Im Bunker selbst hielten sich damals nur noch etwa zwanzig Personen auf. Deren Namen sind alle bekannt, die Ihres Großvaters

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