Alpendohle. Swen Ennullat
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„Es ist doch offensichtlich, mein Junge“, antwortete der Veteran müde. „So wie mir Bormann einen Befehl erteilte, gab Hitler anscheinend auch ihrem Großvater eine Order. Nur war Hitler so großzügig, Hans gleich ein Geschenk für seine Dienste – in Form seines Buches – zu überreichen. In den Augen des Führers sollte sein Werk durch die persönliche Widmung wohl wie eine Vollmacht für Ihren Großvater wirken, ihn bei der Erfüllung seiner Aufgabe unterstützen.
Hans und ich waren beide niedere Wehrmachtssoldaten ohne besondere Verbindungen zu hohen Offizieren, denen Hitler und sein engerer Stab zum damaligen Zeitpunkt sowieso nicht mehr trauten. Aber vor allem waren wir nicht wichtig, sondern das ganze Gegenteil, nämlich entbehrlich! Wir bekamen zivile Kleidung, um uns ungehinderter oder möglichst unerkannt bewegen zu können. Wenigstens glaubten sie das. Letztendlich übernahmen wir aber Himmelsfahrtskommandos. Niemand konnte wissen, ob wir es schaffen und unsere Ziele erreichen würden. Und trotzdem, so unwahrscheinlich es auch war, ist es sogar uns beiden gelungen, am Leben zu bleiben.
Ich habe vermutlich Befehle nach Wandlitz gebracht, die Göring oder Himmler zugehen sollten. Ihr Großvater hatte vielleicht die Aufgabe, Instruktionen oder Briefe anderen Funktionären zuzustellen. Das ist das ganze Geheimnis. Vielleicht gab es Dutzende von uns. Als ich Hans damals sah, war er in Begleitung eines Jungen. Vielleicht musste auch er einen ähnlichen Auftrag ausführen. Die einzige Frage, die ich mir später immer gestellt habe, betraf die Beweggründe Ihres Großvaters, sein Leben so leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Mich haben sie mit dem Leben meiner Eltern erpresst. Aber Ihr Großvater hatte keine Verwandten mehr in Berlin.
Nun ja, wir konnten heute Nachmittag leider nicht jedes Geheimnis lüften. Also, mein Junge, machen Sie sich keine weiteren Gedanken! Behalten Sie Ihren Großvater so in Erinnerung, wie Sie ihn kannten. Mehr steckt nicht dahinter!“
„Vielleicht haben Sie ja recht!“, entgegnete Torben, der unwillkürlich an die Widmung denken musste: „Die Zukunft des Großdeutschen Reiches liegt in Ihren Händen! Ich stehe so tief in Ihrer Schuld, wie es ein Mann nur sein kann.“
„Natürlich habe ich recht, ich sage es nochmals, wir waren entbehrliche, kleine und dumme Handlanger, mehr nicht!“, krächzte Reiher, der die Botschaft ja nicht kannte, und bekam einen Hustenanfall, der noch andauerte, als Torben ihn bereits wieder im Wohnheim einem Pfleger übergab.
Er hatte genug gehört und wollte ihn nicht länger quälen. Er bat den Betreuer, dem alten Mann später, wenn es ihm wieder besser ginge, nochmals seinen Dank für das Gespräch auszurichten, und hinterließ eine Visitenkarte mit seiner Adresse und Telefonnummer, falls dem Veteranen noch etwas einfallen sollte.
III
Aufgewühlt von den Erzählungen Reihers, verbrachte Torben den späten Nachmittag und den Abend damit, sein Wissen über das Dritte Reich und – wie er es für sich selbst nannte – den Größenwahn der Nazis aufzufrischen. Relativ schnell wurde ihm klar, dass das Internet als Quelle für die für ihn so wichtigen letzten Kriegstage nicht ausreichend war, und er beschloss, einen Spezialisten zu konsultieren. Als geeignetster Kandidat erschien ihm Prof. Dr. George Meinert, der Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkt Nationalsozialismus am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin. Dieser galt – schenkte man den Veröffentlichungen Glauben – auf internationalem Parkett als Koryphäe. Einige Kollegen kritisierten jedoch – so musste er in den Artikeln seiner Berufsgenossen lesen – dessen dogmatische Haltung bei der Interpretation von Forschungsergebnissen. Mit sehr deutlichen Worten warfen sie Meinert vor, dass er keine anderen Meinungen zulasse. Sie bezeichneten ihn als beratungsresistent, exzentrisch und introvertiert. Für Torben, der immer schon ein Faible für Dissidenten und Querdenker hatte, wurde er jedoch dadurch nur sympathischer und er beschloss, den Professor in den nächsten Tagen aufzusuchen.
Bei Professor Meinert einen Termin zu bekommen, gestaltete sich schwieriger als gedacht, da ihm bei einem Telefonat mit dem zuständigen Institutssekretariat eine angenehme weibliche Stimme mitteilte, dass der Herr Professor seit einigen Wochen bis auf Weiteres vom Lehrauftrag freigestellt sei.
Torben, galant und charmant wie immer, wenn er von wildfremden Menschen Informationen brauchte, wusste zwanzig Minuten später, dass es sich bei der sympathischen Stimme um eine studentische Hilfskraft im achten Semester namens Melody handelte, die auch Vorlesungen bei Professor Meinert besucht hatte. Sie teilte Torben mit, dass sich der Professor institutsintern mit einigen Kollegen und Vorgesetzten überworfen habe. Für seinen Lehrstuhl werde derzeit ein Nachfolger gesucht und sein Büro sei bereits vollständig geräumt. Auf Nachfrage konnte sie zwar keine private Erreichbarkeit des Professors nennen, gab aber an, gehört zu haben, er würde – um sich etwas die Zeit zu vertreiben – am Holocaust-Mahnmal im Zentrum Berlins kleine Führungen für Touristen übernehmen.
Torben bedankte sich bei Melody und erhielt als Gegenleistung für sein einnehmendes Wesen ihre Handynummer, natürlich mit dem Hinweis, dass sie sonst nicht so freigiebig sei, sie ihm aber – sollte er noch Fragen haben – gern behilflich sein wolle. Und da Melody nicht nur ein außergewöhnlicher Name war, sondern sie wirklich ganz sympathisch klang, notierte sich Torben tatsächlich ihre Nummer und heftete sie an seine Pinnwand. Vielleicht würde sich ja irgendwann eine Gelegenheit ergeben, sie persönlich kennenzulernen und festzustellen, ob ihr Äußeres dem Klang ihres Namens entsprach.
Torben erinnerte sich dank alter Recherchen daran, dass man bei einer behördlich zugelassenen und registrierten Firma angestellt sein musste, um als Guide in Berlin arbeiten zu können. Durch diese Information wusste er eine Stunde und sieben Telefonate bei Sightseeing-Agenturen später nicht nur, dass der Professor tatsächlich kleine Stadtrundgänge anbot, er hatte sogar für den nächsten Tag eine individuelle Führung bei ihm buchen können.
Um elf Uhr morgens lernte Torben den Professor dann auch tatsächlich kennen.
Bekanntermaßen gibt es keine zweite Chance für einen ersten Eindruck. Der Professor beherzigte mit seinem Auftreten offensichtlich diesen Grundsatz. Statt eines älteren, zerzausten Gelehrten mit Nickelbrille und durchgewetzten Ärmeln sah sich Torben einem mittelgroßen, braun gebrannten und sehr gepflegten Mann reiferen Alters gegenüber, der augenscheinlich – so verrieten es Bauchansatz und leicht gerötete Nase – den Herbst seines Lebens in vollen Zügen genoss.
Der Professor trug einen hellen Leinenanzug mit weißem Hemd samt passendem beigefarbenen Halstuch. Ein weißer Strohhut und ein Spazierstock vervollständigten das Ensemble. In seiner ganzen Erscheinung erinnerte er Torben eher an den jungen Hemingway als an einen steifen Akademiker.
Das Bemerkenswerteste an seinem Auftritt bestand jedoch darin, dass er in Begleitung eines braunen Chiwawas erschien, den er an einer Leine führte. Torben musste schmunzeln, als er sah, wie vorsichtig und behutsam der kräftige Mann mit dem winzigen Hund umging, anscheinend sogar mit ihm redete. Der Professor war Torben vom ersten Augenblick an sympathisch.
Insgeheim hatte er gefürchtet, Professor Meinert aufgrund des Verlustes seines Lehrstuhls in niedergeschlagener Stimmung vorzufinden. Als sie sich aber gegenüberstanden, wurde er vom blanken Gegenteil überrascht. Der Professor begrüßte ihn mit einem freundlichen und offenen Lächeln. „Ah, lassen Sie mich raten, Sie müssen Herr Trebesius sein. Richtig? Ein wirklich außergewöhnlicher Name, vielleicht können Sie mir ja später etwas über seinen Ursprung erzählen. Wie ich höre, zeichnen Sie sich durch einen erlesenen Geschmack aus, weil Sie darauf bestanden haben, dass ich Ihre Führung