Dattans Erbe. Nancy Aris

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Dattans Erbe - Nancy Aris

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Außer Bernd, mein Chef. Auch ahnte keiner, dass ich seit einem halben Jahr reich war. Sehr reich sogar. Ohne real etwas dafür getan zu haben, hatte ich über Nacht so viel Geld, dass ich mir um nichts mehr Sorgen machen müsste. Auch für Martin und Paul würde es reichen. Geldprobleme waren mir ohnehin fremd, aber nun wusste ich, dass ich auch in Zukunft nie in Geldnot geraten würde, egal wie viel ich verdiente. Es würde immer reichen. Und das war ungemein beruhigend.

      Trotzdem verhielt ich mich nach diesem Geldsegen ganz normal, so wie immer. Ich ging weiter arbeiten, kaufte im Discounter ein und putzte selbst. Äußerlich war kein Unterschied zu bemerken. Wir hatten immer noch kein Auto, wohnten weiterhin in unserer Mietwohnung, und ich kleidete mich nicht bei Max Mara ein, sondern blieb bei meinen Jeans. Nur gingen wir öfter schick essen, nahmen ein Taxi oder buchten im Urlaub teure Hotels. Ich genoss diese Annehmlichkeiten und das Gefühl, nicht mehr darüber nachdenken zu müssen, ob wir uns das leisten konnten oder nicht. Wir konnten.

      Warum also hatte ich plötzlich genug von meinem Job?

      Angefangen hatte alles an diesem Sonntag im Mai, eine Woche vor meinem Geburtstag. Wir saßen im Garten und frühstückten, obwohl es zu kühl dafür war. Ich hatte Martin und Paul dazu überredet, weil ich gern im Garten saß. Eine gemütliche Frühstücksatmosphäre kam trotzdem nicht auf. Ich hatte sie zwar rumgekriegt, aber sie saßen fröstelnd da, tranken einsilbig ihren Kaffee und verschwanden bald wieder. Ich blieb demonstrativ sitzen, kuschelte mich in eine Decke und begann mit der Sonntagslektüre. Ich liebte es, am Wochenende faul im Garten zu sitzen und in der ZEIT zu blättern. Und plötzlich war da diese Annonce. Ich las keine Stellenanzeigen, hatte das Inserat nur zufällig beim Umblättern entdeckt, weil es riesig war und mir ein russisches Wort in fetten roten Lettern in die Augen sprang:

      ВНИМАНИЕ!

      Russischsprachige Anzeigen in der ZEIT? Ich las weiter.

       Suche ab sofort Historiker für Archiv-Recherche in Wladiwostok. Vorausgesetzt werden sehr gute Russischkenntnisse, Abenteuerlust und Beharrlichkeit. Bei zufriedenstellenden Rechercheergebnissen erwartet den Bewerber eine überdurchschnittliche Bezahlung.

      Dann eine Chiffre-Nummer. Was war das denn? Ich las noch einmal. Es schien ein Widerspruch in sich: Abenteuerlust & Beharrlichkeit, Archivrecherche & gute Bezahlung. Das passte nicht zusammen. Alles wirkte unseriös, auch die russische Überschrift. Und dann noch in der ZEIT. Und wer setzte über eine Stellenausschreibung schon ein „Achtung!“, ein sprachliches Warnschild? Wovor sollte der Rechercheur gewarnt werden? Und was sollte die Chiffre-Nummer? So etwas kannte ich nur von Partneranzeigen. Alles war geheimnisvoll und doch so unprofessionell. Warum stand da nicht, wer der Auftraggeber war und worum es ging? Kein Institut, keine noch so blasse akademische Einrichtung würde so inserieren. Der ganze Duktus war antiquiert, wie aus einer anderen Welt. Offenbar war da jemand am Werk, der noch nie eine Anzeige aufgegeben hatte. Jeder seriöse Historiker hätte weitergeblättert, hätte die drei Sätze, die verloren im protzigen, überdimensionierten Rahmen bibberten, nicht einmal zur Kenntnis genommen. Nur ich hatte sie entdeckt, weil ich immer erst die abseitigen Dinge sah, bevor ich das Offensichtliche bemerkte. Mittlerweile saß ich schon zwanzig Minuten vor dieser Anzeige und grübelte fieberhaft, was dahinterstecken konnte. Was gab es am östlichsten Rand des Russischen Imperiums, kurz vor Japan, zu recherchieren? Mir fielen irgendwelche Geschäfte ein – Pelze, Gold, Kaviar. Vielleicht ein Business mit japanischen Gebrauchtwagen? Aber warum das Archiv und warum ein Historiker, der zudem auch noch beharrlich sein sollte?

      Ich schaute wieder auf die Anzeige, in der Hoffnung, eine Antwort in diesen drei Sätzen zu finden. Der riesige Rahmen musste Unsummen gekostet haben. Wer gab so viel Geld für solch eine Anzeige aus? Und plötzlich sah ich es. Die Chiffre-Nummer. Dort stand mein Geburtsdatum: ZA130570. Ich erschrak und fühlte mich ertappt. War das für mich bestimmt? Sollte ich es finden? Das konnte kein Zufall sein.

      Ich legte die Zeitung beiseite. Was für ein Quatsch. Warum sollte ausgerechnet ich darauf reagieren? Ich war Historikerin und hatte trotz karrierebremsendem Philologiestudium und Promotion einen Traumjob ergattert. Seit knapp zehn Jahren arbeitete ich nun schon als Beraterin im Innenministerium. Meine Expertise war gefragt. TVL 14. Ich war angekommen. Abenteuerreisen in russische Gefilde gehörten der Vergangenheit an. So etwas hatte ich längst hinter mir gelassen. Warum sollte ich überhaupt darüber nachdenken?

      Zum Glück gab es im Garten immer etwas zu tun. Ich beschnitt die Hecke und zupfte Unkraut. Stundenlang war ich beschäftigt, bis mir der Rücken wehtat. Hin und wieder dachte ich an die Anzeige. Die Sache ging mir nicht aus dem Kopf. Mir war schleierhaft, was sich dahinter verbergen konnte. Ich wollte wissen, worum es ging. Letztlich würde ich das Angebot nicht annehmen müssen. Doch wenn ich nicht wenigstens versuchte, herauszubekommen, worum es ging, würde ich mich später vielleicht ärgern.

      Und plötzlich war es da, das Fernweh, gepaart mit der alten Wehmut. Russland … Wie oft hatte ich davon geträumt, noch einmal dieses chaotische Land zu bereisen, noch einmal zurückzukommen und diese Weite zu durchqueren. Getan hatte ich es nie.

      Wladiwostok. Wie lange war das her?

      Vielleicht war diese komische Chiffre-Nummer genau meine Chance. Die Gelegenheit, die nur einmal kam. Ich musste reagieren. Aber Halt.

      Ich wollte nicht zu viel Aufwand betreiben, keinen förmlichen, mit Referenzen gespickten Bewerbungsbrief aufsetzen, sondern etwas abschicken, das schnell ging und meiner Laune entsprach. Ich wollte mich nicht verstellen oder verbiegen, wusste ich doch nicht einmal, worum es ging. Warum sollte ich mich verrückt machen und mich überschwänglich anpreisen?

      Ich ging ins Haus, bürstete meine erdverkrusteten Hände und setzte einen Tee auf. Dann holte ich meine Karten-Kiste hervor. Ich sammelte Postkarten. Manche schlummerten schon seit über zwanzig Jahren in der Kiste. Gut, dass ich immer alles aufhob. Martin machte das wahnsinnig. Ich suchte nach einer passenden Postkarte und stieß auf den Kamtschatka-Postkarten-Satz, den ich 1991 dort gekauft hatte. Kamtschatka lag noch weiter östlich, aber gemessen an den russischen Weiten war es ein Katzensprung von dort bis nach Wladiwostok. Das Postkarten-Set hatte etwas Skurriles. Erst jetzt fiel mir auf, dass Inhalt und Form völlig auseinanderklafften. Das, was abgebildet war, zog die edle Ausstattung der Karten fast ins Lächerliche. Vom Motiv her waren es Anti-Postkarten: ein Kindergarten im Neubaugebiet, ein Verladekran im Hafen oder das Gebäude der Parteizentrale. Trotzdem waren die Karten aus bestem Karton gestanzt und auf jeder dieser fragwürdigen Sehenswürdigkeiten thronte ein edler goldener Prägestempel mit dem Schriftzug des Ortsnamens: Petropavlovsk-Kamčatckij. Mir kam in den Sinn, dass die Karten genauso widersprüchlich waren, wie die Anzeige. Das würde passen. Ich entschied mich für das Motiv des Handelshafens in der Abenddämmerung – eine Bucht mit unzähligen Kränen, Schiffen und grellem Scheinwerferlicht, im Hintergrund ein goldgelber Himmel mit wilden, dunkelgrauen Wolkengebilden. Immerhin eine Spur von Landschaft. Und dann schrieb ich in Windeseile und ohne weiter darüber nachzudenken:

       Sehr geehrte Damen und Herren,

       nur meine Beharrlichkeit und Abenteuerlust haben mich nach Wladiwostok gebracht, zu einer Zeit, als es für Ausländer strengstens verboten war. Gern würde ich nach über zwanzig Jahren wieder einmal dorthin fahren. Wenn ich dies mit einer spannenden Recherche verbinden könnte, wäre das wunderbar. Ich schreibe Ihnen mehr zu meiner Person, wenn ich weiß, worum es geht.

       Viele Grüße

       Anna Stehr

      Dann fügte ich meine Adresse hinzu. Ich dachte kurz an Brians Geschenk, die Million. Zufrieden grinste ich in mich hinein. Hätte ich vorher je gewagt, so etwas abzuschicken? Wohl kaum. Es war schön, nicht mehr angewiesen zu sein. So roch also die Freiheit der Reichen. Das war vor drei Monaten. Jetzt saß ich im überfüllten Transit-Bereich

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