Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Ausgänge des Konservatismus - Stefan Breuer страница 9

Ausgänge des Konservatismus - Stefan Breuer

Скачать книгу

die Wochenblattpartei sogar für einige Jahre zur Regierungspartei, konnte diese Stellung aber nicht halten, da infolge zunehmender Spannungen auf den Feldern der Wehr- und der Sozialpolitik die Konservativen ihre Mehrheit in der zweiten Kammer einbüßten. Hatte die Regierung sich noch 1855 auf 205 von 352 Sitzen stützen können, so kehrte sich das Verhältnis 1858 zugunsten der Liberalen um: diese erzielten 150 Mandate, während es die Mehrheitskonservativen nur noch auf 47 brachten.37

      Es bedurfte indessen nicht erst dieser Rückschläge, um bei weiter blickenden Repräsentanten des konservativen Lagers das Bewußtsein zu schärfen, daß man 1848/49 nur erst eine Schlacht gewonnen hatte, jedoch noch lange nicht den Krieg. Zu ihnen gehörte an vorderster Stelle mit Friedrich Julius Stahl ein Autor, der entscheidende Prägungen durch den süddeutschen Konstitutionalismus erfahren hatte, bevor er an die Berliner Universität berufen wurde. Man hat von ihm und Ernst Ludwig von Gerlach als den »Dioscuren des preußischen Conservatismus« gesprochen38, und dies insofern zu Recht, als es sich zeitweilig um eine enge Waffenbrüderschaft handelte. Zwillinge im konservativen Geist waren beide jedoch nicht, im Gegenteil.39 Stahl sah 1848 in den Interventionen Gerlachs in der ›Kreuzzeitung‹ den »ächten Constitutionalismus entweder nicht beachtet oder nicht gehörig bezeichnet«.40 Von Gerlach wiederum ist überliefert, daß in seinen Augen Stahl »dem constitutionalismus vulgaris« verfallen war, den er nur durch christliche-sittliche Gefühle »conservativ zu temperiren« versucht habe. »Seine Wissenschaft war schwach und seine Füße hatten keinen Felsengrund unter sich; seine Gegner und seine tiefer sehenden Freunde sahen dies auch und hielten seine conservative Stellung für etwas relativ Zufälliges; er hätte allenfalls 1850 radowitzisch und 1851 bethmannisch sein können. Vielleicht (ich weiß es nicht) wäre er heute bismarckisch oder doch hengstenbergisch.«41 Auch Heinrich Leo, mit den Gerlachs während der 48er Revolution eng verbunden, bekannte privatim, er habe Stahls »Art von Konservatismus […] nie von Herzen teilen können«. Rückblickend bemerkte er 1867: »Nur bei Aristoteles ist richtiger Konservatismus; und Stahl, den alle Welt für einen Konservativen preist, war richtig in platonischer Atmosphäre ertrunken. Für eine Zeit, wo der Weltgeist noch auf abstrakteren Pferden ritt als Plato, mag Stahl das Ansehen eines konservativen Stallmeisters zugestanden werden – das war aber damals und die Toten reiten schnell.«42 Für die Gründung einer Partei waren das keine guten Auspizien.

      II.

      Sein Hauptwerk, Die Philosophie des Rechts43, hatte Stahl bereits abgeschlossen, als er 1840 auf ausdrücklichen Wunsch des neuen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. (1840–1861) auf den Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Staatsrecht und Kirchenrecht an der Berliner Universität berufen wurde. Die akademische Karriere des gebürtigen Bayern war bis dahin nicht sonderlich glücklich verlaufen. Schon während seines Studiums war er in Erlangen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Burschenschaft 1824 für zwei Jahre relegiert worden.44 Nach seiner Wiederzulassung hatte er 1826/27 zwar rasch Promotion und Habilitation absolviert und nach einigen Zwischenstationen den Sprung auf eine ordentliche Professur für Kirchenrecht, Staatsrecht und Rechtsphilosophie in Erlangen geschafft, doch geriet er als Vertreter der Universität in der bayerischen Ständeversammlung mit dem Ministerium über Fragen der Finanzverwaltung in Konflikt und mußte deshalb die Umwandlung seiner Professur in eine solche für Zivilrecht hinnehmen.45 Der Berliner Ruf befreite ihn aus dieser Lage und eröffnete ihm über die Universität hinaus zahlreiche neue Wirkungsmöglichkeiten: in der Preußischen Generalsynode, dem Evangelischen Oberkirchenrat, dem Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages, der von Ernst Wilhelm Hengstenberg gegründeten und geleiteten Evangelischen Kirchenzeitung und, ab 1848, der vom Gerlach-Kreis initiierten und getragenen Neuen Preußischen Zeitung, der ›Kreuzzeitung‹, zu deren Aktionären er zählte.46

      Zu den Aktivitäten auf kirchlichem und publizistischem Gebiet kam im Gefolge der Revolution bald auch ein politisches Engagement. Nach den Märzereignissen trat er dem neu gegründeten Verein für König und Vaterland bei und ließ sich zusammen mit Savigny, Bismarck, Hermann Wagener u. a. in den Vorstand wählen.47 Im Februar / März 1849 skizzierte er einen »Entwurf für eine conservative Partei«, der heute als »das erste Parteiprogramm des preußischen Konservatismus« gilt.48 Im gleichen Jahr wurde er in die Erste Kammer gewählt, in der er einen im Vergleich zu Ernst Ludwig von Gerlach gemäßigteren Kurs einschlug.49 Vier Jahre später begegnet er als preußischer Kronsyndikus, Mitglied des Staatsrates und vom König auf Lebenszeit ernanntes Mitglied des Herrenhauses. Dessen Gestaltung ging ebenso auf seine Vorschläge und Initiativen zurück wie »die Beseitigung der Gemeinde-, Kreis- und Provinzialordnungen von 1850; der Entwurf eines Ehescheidungsgesetzes von 1855; die Aufhebung des Art. 40 der Verfassung, welcher die Errichtung von Fideicommissen untersagte« sowie die »Einführung der Städteordnung für die sechs östlichen Provinzen der Monarchie vom 30. Mai 1853«.50 Die Nachwelt hat deshalb nicht gezögert, Stahl zu den »maßgebenden konservativen Theoretiker[n]« zu zählen, ja seine Lehre zu der »bedeutendste[n] des deutschen Konservatismus überhaupt« zu erklären.51

      Dafür spricht zunächst auch einiges. Mit Jarcke oder den Gerlachs wußte sich Stahl einig in der Überzeugung, daß die Revolution von 1848 eine »Katastrophe« war52, ein schweres, wiewohl vorhersehbares Unglück, das dennoch, dem griechischen Wortsinn entsprechend, die Möglichkeit einer Umkehr, einer Wendung zum Besseren in sich barg. Vorhersehbar war dieses Unglück, weil die neuere Menschheit sich von der durch Christus geoffenbarten göttlichen Ordnung abgewandt und einer Weltanschauung verschrieben hatte, die die Macht des »reinen Denkens« und dessen Freiheit von allen vorgegebenen, »naturwüchsigen« Ordnungen behauptete.53 Ihr Wesensmerkmal war der doppelte Anspruch, sich von allem Vorgegebenen distanzieren und zugleich radikal neu ansetzen zu können. Sie begann im 17. Jahrhundert mit Grotius als »subjektiver Rationalismus«, der in »freie[r] Thätigkeit des Gedankens« die »Uebereinstimmung des Menschen mit der Welt« aufhob und sich »selbst eine eigene Welt« schuf54, formte sich aus in den Systemen des »abstrakten Naturrechts« von Pufendorf über Thomasius und Wolff bis zu Kant und Fichte55 und entfaltete ihr destruktives Potential in der ersten französischen Revolution, die sich von allen früheren Erhebungen unterschied; war sie doch nicht bloß Empörung, sondern Umkehrung des überlieferten Herrschaftsverhältnisses selbst, insofern »Obrigkeit und Gesetz grundsätzlich und permanent unter den Menschen stehen [sollten], statt über ihnen«.56

      Seinen politischen Ausdruck fand der subjektive Rationalismus in den »Parteien der Revolution«, die seit 1789 das Geschehen bestimmten: der liberalen, der demokratischen und der sozialistischen Partei.57 Der Liberalismus als Klassenpartei des Mittelstands legte alles Gewicht auf das Prinzip der individuellen Freiheit und wurde damit zum »Zugführer der ganzen Revolution«, in mancher Hinsicht verwerflicher als alles, was folgte.58 Er propagierte die »Ablösung der Menschlichkeit von der Gottesfurcht«59, die Trennung von Staat und Kirche, die »Entgliederung der Gesellschaft« und die Freiheit der Konkurrenz, und grub sich doch sein eigenes Grab, indem er sich in den Widerspruch verstrickte, einerseits »menschlich willkürlich den ganzen öffentlichen Rechtszustand neu zu machen«, andererseits aber »überall das Vermögen zur Bedingung des politischen Vollrechts« zu erklären«, womit er unvermeidlich die Kritik aller davon Ausgeschlossenen heraufbeschwor.60 »Denn, wenn der Wille des Menschen die einzige berechtigte Macht in der gesellschaftlichen Ordnung ist, warum blos der Wille der Begüterten und Gebildeten?«61

      Mit dieser »Halbdurchführung der Principien der Revolution«62 wollten sich die Demokraten und Sozialisten nicht abfinden. Die ersteren, gestützt auf die »Volksmasse (peuple)«, setzten anstelle der liberalen Apotheose des Individuums die Apotheose der Gattung, die Vergötterung des Volkes, den Fanatismus der Brüderlichkeit63, brachten aber lediglich in Nordamerika eine halbwegs lebensfähige Ordnung zustande, die jedoch aufgrund der Sonderbedingungen ihrer Existenz nicht auf andere Länder übertragbar war und im übrigen auch erst noch die Probe auf ihre Dauerhaftigkeit zu bestehen hatte.64 Wahrscheinlicher (und durch die Entwicklung in Frankreich bestätigt)

Скачать книгу