Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer
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Als Gegengewichte hierzu dachte sich Stahl Institutionen wie die Hausherrschaft und die durch Ausbau der Fideikommisse zu festigende, zugleich aber nicht mehr kastenartig abgeschlossene Grundherrschaft138, die ständische Gliederung sowie nicht zuletzt die christlichen Kirchen139, beruhten doch auf dem Christentum das Ansehen des Königtums, das Bildungs- und Erziehungswesen, die »Harmonie nationaler Einheit und ständischer Gestaltung, staatsbürgerlicher Gleichheit und verschiedener Berufsstellung mit besonderer Berechtigung und Ehre«.140 Um ganz sicher zu gehen, verlangte allerdings auch Stahl eine förmliche Garantie dieser stabilisierenden Faktoren durch ein Staatsgrundgesetz (Konstitution), das nicht einseitig, sondern nur durch den Fürsten und die Landesvertretung zusammen zu ändern sei.141
Für die Vertretung der Stände war ein Zweikammersystem vorzusehen, das den »Gegensatz herrschaftlicher und gemeiner (d. i. nicht-herrschaftlicher Stellung)« repräsentieren sollte.142 Für die Erste Kammer, das Oberhaus, kam Stahl den Ideologen der Restauration insoweit entgegen, als er der erblichen Pairie einen Anteil einräumte, den er jedoch an anderer Stelle gleich wieder zurücknahm.143 Wichtiger erschien ihm eine Repräsentation der »mächtigsten Elemente des Landes«, die sich aus der Ritterschaft und den Städten rekrutierten: eine Gruppe, die in der Gegenwart allein noch repräsentierte, was in früheren Zeiten die Geburtsaristokratie gewährte, »aber jetzt nicht mehr vermag: eine starke konservative Macht und eine starke Stütze der Krone.«144 Auch die Zweite Kammer sollte überwiegend aristokratischen Zuschnitts sein, jedoch so, daß im Unterschied zur Ersten Kammer die Prinzipien Vorrang vor den Interessen haben würden. Das implizierte nach der negativen Seite die Ausscheidung des Geburtsadels, der Stahl allzusehr auf sein ständisches Interesse fixiert und auf Abgeschlossenheit bedacht zu sein schien; nach der positiven Seite eine Abbildung des wirklichen Machtverhältnisses der Stände, die freilich je nach Land unterschiedlich ausfallen konnte.145 Für Preußen sah Stahl eine »Führerschaft der Aristokratie« als gegeben an, von der allerdings zu verlangen sei, daß sie sich nicht exklusiv gegenüber den übrigen Ständen, namentlich der nichtadeligen Ritterschaft und den höheren bürgerlichen Ständen verhalte, im übrigen auch berücksichtige, daß »ihre Abordnung durch die ganze ländliche Bevölkerung, mit der sie zusammenschließt, mit bedingt ist«. Halte sie sich an diese Maximen, sei ihre Führerschaft gerechtfertigt, sei diese doch mitnichten ein traditional überkommenes Privileg, sondern funktional begründet.146 Von einer nach diesen Bauprinzipien gestalteten Landesvertretung zeigte sich Stahl überzeugt, daß sie sich von »einer Macht der Zersetzung in eine Macht der Erhaltung« verwandeln werde, »daß sie wie sonst den revolutionären Fortschritt so den geschichtlichen Zustand vertrete und eine Bürgschaft der Stetigkeit gewähre, daß sie wie sonst der Nebenbuhler der Krone so der treue Wächter der Krone sey, und daß sie hierdurch auch im Lande eine konservative Partei hervorrufe und ihr als Mittelpunkt und Wegweiser diene.«147
Der hier anvisierte Konservatismus hatte freilich mit dessen historisch überlieferten Gestalten nur noch wenig gemein. Er rechnete bereits mit der Trennung von Staat und Gesellschaft und damit der Dekomposition der societas civilis, unterstellte eine nach den Regeln des Marktes und der Konkurrenz operierende Eigendynamik der Gesellschaft einschließlich der Aristokratie und trug auch sonst dem Prozeß der funktionalen Differenzierung Rechnung, etwa im Verhältnis von Recht und Moral, von Staat und Kirche148, auch wenn Stahl, erschrocken vor der eigenen Kühnheit, wieder zurückruderte und verlangte, die bürgerliche Gesetzgebung mit der kirchlichen in größeren Einklang zu bringen oder die Wechselwirkung des Sozialen und des Politischen zu beachten.149 Stahl mochte sich noch so stark dafür machen, die Elemente, »die auf dem Bande zu der Vergangenheit ruhen« gegen alle diejenigen zu verteidigen, »welche nach einer neuen Zukunft drängen«, er mochte noch so sehr darauf insistieren, den Vorrang des ›hervorragenden Reichtums‹ vor den mittleren und ärmeren Ständen zu sichern.150 Am Ende war, was er als »das konservative Princip« offerierte, nicht sehr viel mehr als »eine gewisse Vorliebe für das Bestehende und ein Streben nach langsamerem Gange der Veränderung.«151 Und da dieses Bestehende seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend durch die moderne bürgerliche Gesellschaft und ihren Staat bestimmt war, spricht dies für Deutungen, die in Stahl eher den »Totengräber« des Konservatismus sehen als dessen »Chefideologen«.152 Aber das war eine Einsicht, der sich nicht bloß zu Stahls Zeiten die Akteure gern verschlossen, so daß dieses Buch hier noch nicht zu Ende sein kann.
3.Einstürzende Neubauten: Hermann Wageners Revision des Konservatismus
In einem noch heute lesenswerten Überblick über Geschichte und Programmatik der konservativen Partei in Deutschland aus dem Jahr 1908 konstatiert der Verfasser, Oscar Stillich: »Das geistige Heldenzeitalter der Konservativen, in der Stahl, Gerlach und Wagener die Parteiforderungen wissenschaftlich vertieften, ist vorüber, und die neue Zeit findet ein kleines Geschlecht.«1 Ersetzt man das sicher zu hoch gegriffene Wort »wissenschaftlich« durch »intellektuell«, wird man dieser Einschätzung beipflichten müssen. Was um 1900 noch unter Konservatismus lief, zeichnet sich gerade durch einen ausgeprägten Antiintellektualismus aus2, mit der Folge, daß es schwer fällt, für diese Periode auch nur einen einzigen Namen zu nennen, der es mit den oben Genannten an geistiger Spannweite und Prägnanz aufnehmen könnte. Gleichzeitig läßt sich aber auch nicht übersehen, daß schon für das »Heldenzeitalter« erhebliche Brüche und Inkompatibilitäten zu verzeichnen sind. Arbeitete Ernst Ludwig von Gerlach auf die Wiederherstellung der societas civilis hin, um damit zunehmend ins Abseits zu geraten, setzte Friedrich Julius Stahl auf einen Reformkonservatismus, der den politischen und sozialen Veränderungen nicht bloß negativ gegenüberstand, jedoch mehr Gepäck über Bord warf, als man im Kreis der Doktrinäre hinzunehmen bereit war. Mit Hermann Wagener ist sogar noch eine dritte Strömung benannt, durch die der Konservatismus vollends zu einem heterogenen Phänomen wurde. Anfangs ein Protégé Gerlachs, trat Wagener zunehmend aus dessen Schatten, um sich bald darauf zum »bedeutendsten Protagonisten einer konservativen Sozialpolitik im 19. Jahrhundert« zu entwickeln.3 Dem Konservatismus ist das zwar nicht zugutegekommen. Wohl aber der Erschließung eines neuen Politikfeldes: der Sozialpolitik.
I.
Hermann Wagener, geboren am 8. 3. 1815 in einer kleinen Gemeinde der Ostprignitz, war eine Gestalt, die sich durch ihren sozialen Status, durch ihre religiöse Orientierung sowie durch eine Reihe ungewöhnlicher persönlicher Eigenschaften von den meisten übrigen Repräsentanten des preußischen Konservatismus unterschied.4 Als Sohn eines Pfarrers war Wagener bürgerlicher Herkunft. Erst nach seinem Ausscheiden aus der ›Kreuzzeitung‹ erhielt er von seiner Partei als Abschiedsgeschenk das Gut Dummerfitz im Kreis Neustettin und rückte damit, wenn auch nicht in den Adel, so doch in den Kreis der ländlichen Elite auf. Daß er von Landwirtschaft nicht viel verstand und auf diesem Feld daher wenig reüssierte, unterschied ihn nicht von vielen anderen Gutsbesitzern, wohl aber sein Engagement in der Sekte der Irvingianer, in der er die Stelle eines Diakons einnahm und sogar Predigten hielt.5 Die Weltanschauung dieser von Edward Irving (1792–1834), einem Mitglied der Schottisch-Presbyterianischen Kirche, geprägten Richtung war, nach dem Urteil von Schoeps, »dualistisch-pessimistisch und einem schroffen Chiliasmus verschrieben«, demzufolge die Gegenwart seit der Französischen Revolution als von gottesleugnerischer Verwirrung bestimmte Endzeit galt.6 Denkbar, obschon nicht beweisbar, daß in dieser apokalyptischen Weltsicht die von Theodor Fontane bemerkte Bereitschaft zum Hasardieren, aber auch eine gewisse Bedenkenlosigkeit hinsichtlich der zu verwendenden Mittel wurzelte, die für Wagener typisch wurde.7