Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer
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Der volle Umfang von Wageners Einfluß wird jedoch erst deutlich, wenn man sich neben diesen Aktivitäten im Feld der Publizistik auch seine politische Karriere vergegenwärtigt. 1853 wurde er mit Hilfe seines Freundes Kleist-Retzow vom Wahlkreis Belgard-Neustettin ins preußische Abgeordnetenhaus gewählt, wo er, mit zeitweiliger Unterbrechung, bis 1870 tätig war. In den ersten Jahren trat er dort nicht nur mit verschiedenen Interventionen zur Änderung der in wesentlichen Zügen durchaus liberalen Verfassung hervor, auf die im nächsten Abschnitt näher einzugehen sein wird. Er unternahm zugleich verschiedene Anläufe, um »die große Schwäche der conservativen Partei«, den »Mangel eines positiven Programms«, zu kompensieren.12 1856 verfaßte er gemeinsam mit dem Gründer der Berliner Revue, Freiherrn von Hertefeld, sowie dem Rittergutsbesitzer, westpreußischen Landrat und Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses, Moritz von Lavergne-Peguilhen13, die Grundzüge der conservativen Politik, die sich im ersten, von Wagener verfaßten Teil mit beträchtlichem rhetorischen Aufwand gegen den »Constitutionalismus« wandten, hinter dessen Schleier sich »die gewaltigen geistigen Mächte des Bösen« befänden, um es dann aber bei einer Verschiebung der Balance in Richtung des Königtums belassen, ohne an der Grundentscheidung für das System des monarchischen Konstitutionalismus zu rütteln.14 Die Forderung nach »Hebung der bis dahin gesellschaftlich und staatlich unterworfenen Klassen« wurde nur pauschal erhoben und nicht weiter konkretisiert, plädierte man doch dafür, »alle socialen Fragen in die Special-Legislatur« zu verweisen und »die Initiative der Details der besseren Einsicht und Information der Staatsregierung« zu überlassen.15 So blieb es im wesentlichen bei Maßnahmen für die beati possidentes, deren Besitz vor den Gefahren der Verschuldung und der Bodenzersplitterung geschützt und durch eine »zweckmäßige Darlehnsgesetzgebung sowie durch Herstellung gesunder Creditanstalten« gefördert werden sollte, flankiert von der Einrichtung korporativer Genossenschaften auf dem Gebiet des Handwerks und einer »Feudalisirung der Stellung des Fabrikherrn zu seinen Arbeitern«.16 Drei Jahre später, in einem Vortrag vor konservativen Parteigenossen, bekräftigte Wagener diese Forderungen noch einmal, ohne viel Neues hinzuzufügen. Immerhin ließ die scharfe Akzentuierung des »militärischen Charakters der preußischen Monarchie« bereits etwas von den Konflikten erahnen, die Preußen in den kommenden Jahren erschüttern sollten.17
1861 gehörte Wagener zu den Gründern des Preußischen Volksvereins, der als Gegenorganisation zur Fortschrittspartei konzipiert war und auf seinem Höhepunkt nach dem Krieg gegen Dänemark mehr als 50 000 Mitglieder zu mobilisieren vermochte.18 Im März 1866 wurde er auf Betreiben Bismarcks, mit dem er seit den 40er Jahren befreundet war, zum Zweiten Vortragenden Rat im Staatsministerium ernannt, sechs Jahre später, als Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat, zum Ersten Vortragenden Rat und damit zum wichtigsten Berater Bismarcks.19 Ob er in dieser Rolle, wie man gemeint hat, zum größten Politiker neben Bismarck avancierte, den die Konservative Partei hervorgebracht hat20, sei dahingestellt, doch zählte er bis zu seinem Sturz 1873 sicherlich zu den einfluß- und einfallsreichsten Köpfen dieser Partei, die er von 1867 bis 1871 auch im Norddeutschen Reichstag und danach bis 1873 im Reichstag vertrat. Auch nach seinem Abschied von der politischen Bühne, der durch die Verwicklung in einen der vielen Gründerskandale verursacht war, beriet Wagener Bismarck weiter, wie verschiedene von ihm verfaßte Denkschriften zu sozialpolitischen Fragen zeigen.21 Zum Bruch kam es erst 1877, als Wagener durch die Veröffentlichung von Interna Druck auf Bismarck auszuüben versuchte.22
Hermann Wagener war, wie zu Recht festgestellt worden ist, als Theoretiker »unbedeutend und unselbständig«.23 Er war jedoch nichtsdestoweniger »einer der klügsten Sozialdiagnostiker seiner Generation«24, wenn man darunter die Fähigkeit versteht, die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich für Deutungsangebote zu öffnen, die mit althergebrachten Mustern brachen. Dazu gehörte eine kritische Haltung gegenüber den »herrschenden Stände[n]«, denen Wagener vorwarf, »die Schleusen der Speculation, der Agiotage, des persönlichen Reichwerdens« zu öffnen, »anstatt das Volk in der Beschäftigung mit den Problemen der socialen und staatlichen Organisation zu erziehen«25; gehörte die Bereitschaft zum Dissens mit dem eigenen politischen Lager, wo dieses sich allzu kompromißbereit zeigte; gehörte endlich auch die von keinen Skrupeln getrübte Übernahme von Essentials des gegnerischen Lagers, wenn sich damit die eigene Macht vergrößern ließ. Schon in den frühen 50er Jahren mußten sich die Häupter der konservativen Fraktion im Abgeordneten- wie im Herrenhaus Angriffe der »jeune droite« um Wagener und Bindewald gefallen lassen, die auf eine entschiedenere Haltung sowohl gegenüber der Regierung als auch gegenüber den Liberalen drängten.26 Zur Zeit des Heereskonflikts wurde daraus gar ein förmlicher Bruch, als Ernst Ludwig von Gerlach und die ihm nahestehenden Kreise nolens volens an der preußischen Verfassung von 1848 und erst recht an deren revidierter Version von 1850 festhielten und Veränderungen allein auf legalem Wege angehen wollten27, Wagener hingegen Bismarck empfahl, den Verfassungskonflikt im Wege der »königliche[n] Diktatur« zu lösen. Diese sei zwar nur als ein »Notrechtsmittel«, gedacht »nicht zur Beseitigung, sondern zur Bewahrung der Verfassung«28, mithin eine kommissarische und keine souveräne Diktatur im Sinne der Terminologie Carl Schmitts.29 Doch schloß dies ein Vorgehen nicht aus, das an die radikale Phase der Französischen Revolution erinnert. So sprach Wagener dem »Terrorismus« »ein gewisses Recht« zu, »da die Völker vor allen Dingen erst wieder Gehorsam lernen müssen«, verlangte »die rücksichtsloseste Anwendung der verfassungsmäßigen Machtbefugnisse der Krone« gegen die Feinde der Monarchie – »die Oligarchen des Geldkapitals, sowie an deren Leine laufenden ›katilinarischen Existenzen‹ der Literatur und der wechselverbundenen freisinnigen Größen des Bürokratismus« – und steigerte sich bis zu der Forderung, die Fortschrittspartei, diesen Repräsentanten der Börse und der Bourgeoisie, nicht nur zu besiegen, sondern zu vernichten.30
Wie eine andere Denkschrift zeigt, wollte Wagener die königliche Diktatur zugleich im Sinne Lorenz von Steins verstanden wissen, der dem Königtum 1850 ins Stammbuch geschrieben hatte, es werde »fortan entweder ein leerer Schatten, oder eine Despotie werden, oder untergehen in Republik, wenn es nicht den hohen sittlichen Mut hat, ein Königtum der sozialen Reform zu werden.«31 Was bei Stein jedoch im Sinn einer Förderung der sozialen Aufstiegsmobilität im Rahmen einer auf Konkurrenz gegründeten Wirtschafts- und Sozialordnung gedacht war, reduzierte sich bei Wagener zu diesem Zeitpunkt auf das gezielte Bemühen, einen Keil in das oppositionelle Lager zu treiben, das sich seit der Wahlniederlage der Konservativen von 1858 im Aufwind befand.32 Um ein politisches Gegengewicht zu den Liberalen zu schaffen, empfahl Wagener der Regierung, den Interessen des kleinen Gewerbestandes und der Arbeiterschaft, »deren politische Bedürfnisse stets nach der monarchischen Gewalt gravitieren«, ein Stück weit entgegenzukommen.33 Dazu böten sich mit Blick auf das Handwerk eine schärfere Abgrenzung der Gewerbe an, eine Reorganisation der Gewerberäte sowie die Einrichtung von Gewerbegerichten und Handwerkerdarlehenskassen, bezogen auf die Arbeiter staatlich festgelegte Mindestlöhne, eine Freigebung der Stück- und Akkordarbeit, die gesetzliche Feststellung der Zusammengehörigkeit