Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Ausgänge des Konservatismus - Stefan Breuer

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sei in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung die Gleichheit ersetzt durch die Ungleichheit der Gnadengaben und Ämter. Eine Gleichheit der politischen Rechte sei damit ebenso ausgeschlossen wie eine gesellschaftliche Gleichheit. Vielmehr sei Ungleichheit »authentisch, selbstverständlich und von göttlichem Ursprung, ja mit Blick auf das Entstehen und Funktionieren von Staat und Gesellschaft gar organisch.«58 Niemand, folgerte Wagener, einmal mehr unter ausführlicher Bezugnahme auf Lorenz von Stein, stehe im Staate isoliert da, vielmehr sei »die Person Theil und Glied organischer Anstalten und Verbindungen«, von denen keine aus gleichen Teilen bestehe. Die politischen Rechte, die aus der Zugehörigkeit zu diesen Anstalten erwüchsen, seien nicht minder als Eigentum zu betrachten »als das erworbene Privat-Eigenthum«.59

      Es bedarf keiner weit ausholenden Erläuterungen, um klar zu machen, was hier gemeint ist: die Rückkehr zur stratifikatorischen Differenzierung und damit zu einer Ordnung, in der die Schichtzugehörigkeit multifunktional wirkt und einer Eigengesetzlichkeit verschiedener Handlungssphären schwer zu überwindende Schranken zieht. Das entspricht ganz der oben referierten programmatischen Kundgebung zur konservativen Politik, in der dem »sociale[n] Liberalismus« vorgeworfen wird, »zur Lösung der gesellschaftlichen Bande, zur Atomisirung der Gesellschaft« geführt zu haben, ein Ergebnis, dem das »Recht der Gesellschaft« gegenübergestellt werden müsse, namentlich das »Grundgesetz des organischen Lebens«, wonach »jedes Glied und jedes System des Organismus möglichst vollkommen, d. h. zu selbständiger Lebens- und Bildungsfähigkeit entwickelt sein müsse, um den Gesammt-Organismus zur höchsten Vollkommenheit und Machtfülle zu erheben.«60 Das hieß positiv gewendet: Befestigung der Familie, Befestigung des Grundbesitzes und der darauf basierenden Gemeindeordnungen, »Decentralisation des staatlichen und wirthschaftlichen Lebens, Herstellung örtlicher und provinzieller Selbständigkeit« und nicht zuletzt: Schaffung einer »auf produktiver Arbeit gegründete[n] und sich ausbildende[n] politische[n] Aristokratie«.61 Mochten die alten Stände auch an Kraft und Legitimität eingebüßt haben, so schien es dem Irvingianer Wagener doch im Bereich des Möglichen, eine »ständische Wiedergeburt (!) mit neuen Ständen« anzustreben, die über umfassende Rechte der Selbstverwaltung verfügen würden.62 Zu ihnen sollten neben Adel, Bürgertum und Bauerntum auch der Handwerkerstand sowie der zu Korporationen zusammenzufassende Arbeiterstand gehören, welch letzterer nach dem Vorbild der Stein-Hardenbergschen Reformen zu ›emanzipieren‹ sei.63 »Kein Bruch mit der Vergangenheit im Innern unseres Staates«, hieß es im Programm des von Wagener gegründeten Preußischen Volksvereins, »keine Beseitigung des christlichen Fundaments und der geschichtlich bewährten Elemente unserer Verfassung; […] kein Preisgeben des Handwerkes und des Grundbesitzes an die Irrlehren und Wucherkünste der Zeit.«64

      Schon die Liste der von Wagener angesprochenen Stände sollte allerdings davor warnen, seine Ausführungen zum Nominalwert zu nehmen. Das Allgemeine Preußische Landrecht kannte lediglich drei Stände (Adel, Bürgertum und Bauern), auch wenn es daneben bereits die Existenz neuer Klassen und Gruppen einräumen mußte, die das dreigliedrige Modell aufweichten.65 Als eigentlicher Herrschaftsstand galt dabei der Adel, während das Bürgertum unterprivilegiert war, um von den Bauern zu schweigen.66 Gar keinen Platz in der herkömmlichen Standesordnung hatte dagegen die städtische und die ländliche Arbeiterschaft, weshalb Ernst Ludwig von Gerlach noch 1865 behaupten konnte, ein vierter Stand existiere nicht.67 Einen solchen ins Leben zu rufen, lag aber letztlich auch in Wageners Absicht nicht, erklärte er doch ausdrücklich die Arbeiterfrage zu einer »ganz neue[n] Frage«, deren Behandlung durch »die alten Organe […] nichts weiter sein [würde] als ein komischer Versuch. Man kann leichter mit einem schweren Frachtwagen im Sande Galopp fahren als die Arbeiterfrage lösen mit Männern und Organen, die derselben fremd oder feindlich gegenüberstehen. Man füllt eben nicht ›neuen Most in alte Schläuche‹, und wenn man ein fehlerhaftes System aus den Angeln heben will, so kann dies nur dadurch geschehen, daß man einen festen Punkt außerhalb desselben zu finden weiß.«68

      Der Punkt außerhalb, von dem hier die Rede ist, war indes nicht nur ein Punkt. Er war die Keimzelle eines gänzlich anderen Systems. War in der ständischen Ordnung, in den Worten Max Webers, die soziale Lage der verschiedenen Schichten »durch eine spezifische, positive oder negative, soziale Einschätzung der ›Ehre‹ bedingt«, so wich die Lage der Arbeiterschaft hiervon insofern ab, als sie primär ökonomisch bestimmt war, durch die für die Wirtschaftsordnung typische unterschiedliche »Verfügung über sachlichen Besitz«.69 Das Verhältnis von Besitz und Besitzlosigkeit aber ist, wiederum nach Weber, die Basis aller »Klassenlagen«, die dazu tendieren, zugleich »Marktlagen« zu sein – im Fall der Arbeiter wie der Unternehmer: Arbeits- und Gütermarktlagen.70 Das scheint auch Wagener gegen Ende der 60er Jahre deutlich geworden zu sein, sprach er doch seit dieser Zeit von einer »Entwicklung des Staates aus feudalistischen und bürokratischen Elementen zu einer modernen Erwerbsgesellschaft«, deren Teilnehmer sich nach materiellen Interessen gruppierten.71 Entsprechend stünden sich nicht mehr verschiedene Stände gegenüber, sondern »die Interessen der handelstreibenden und industriellen Klassen« auf der einen Seite und die »Interessen des Grundbesitzes und der arbeitenden Klasse« auf der anderen. Deren Beziehungen aber würden anstatt durch Herrschaft durch Markt und Geld bestimmt. Schon das oben zitierte Grundsatzprogramm von 1856 trug dem Rechnung, indem es der konservativen Agrarpolitik die paradoxe Aufgabe zuwies, eine »Feudalisirung des ländlichen Grundvermögens im modernen, der Macht der Geldwirthschaft entsprechenden Sinne« anzustreben.72 Mit den Ansichten Ernst Ludwig von Gerlachs, der die soziale Frage mit den Mitteln des »Lehnsrechts« lösen und die Grundherrschaft wie die Fabrik als »kleine Fürstentümer« nach dem Modell des herkömmlichen Patriarchalismus organisieren wollte73, war unter solchen Voraussetzungen eine Verständigung nicht mehr möglich, und so war es denn auch nur konsequent, wenn beide 1865 ihren Gegensatz in der sozialen Frage endlich auch in der Öffentlichkeit austrugen.74

      Wie unorganisch die von Wagener anvisierte Neubegründung des Konservatismus ungeachtet aller Beschwörungen des ›Organischen‹ war, läßt sich auch am Verhältnis von Politik und Religion demonstrieren. Nachdem Wagener Anfang 1856 im Abgeordnetenhaus mit seinem Antrag auf Abschaffung des Artikels 4 der revidierten preußischen Verfassung von 1850 gescheitert war, suchte er wenigstens die für stratifizierte Ordnungen charakteristische Einheit von Herrschaftsausübung und Religion zu sichern, indem er bei der Beratung der Gemeindeordnung unter Verweis auf die in Artikel 14 festgelegte besondere Bedeutung des Christentums für diejenigen Einrichtungen des Staates, »welche mit der Religionsausübung in Zusammenhang stehen«, eine Modifizierung des Artikels 12 verlangte. Aus diesem Artikel, der die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, die Vereinigung zu Religionsgesellschaften und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsausübung gewährleistete, wollte Wagener, in Wiederaufnahme eines bereits 1852 von einem Posener Abgeordneten gestellten, jedoch abgelehnten Antrags, die Bestimmung gestrichen haben, wonach der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte unabhängig vom religiösen Bekenntnis sei75, mit der Folge, daß damit automatisch alle Nichtchristen – und das hieß rebus sic stantibus vor allem: die Juden – von diesen Rechten ausgeschlossen sein würden: eine Wiederaufnahme und Verschärfung der von Friedrich Julius Stahl vertretenen Lehre vom »christlichen Staat«, die sich in den Beratungen über die Verfassung nicht hatte durchsetzen können, obwohl sie sich im Unterschied zu Wageners Antrag nur auf die staatsbürgerlichen Rechte bezogen hatte.76 Daß der preußische Staat ein christlicher Staat sei, so Wageners Begründung, sei eine Bestimmung, deren Auswirkung bis tief in die bürgerlichen Verhältnisse, etwa in die Begriffe von Person und Eigentum, hineinreiche und nicht weniger bedeute, als daß allen Zielen und Endzwecken des Staates »der christliche Glaube und die christlichen Verheißungen und dessen Gesetzen und Institutionen die christliche Moral zu Grunde liegt«, woraus wiederum zwingend folge, daß er »um deswillen seine Gesetze nur durch Christen machen, auslegen und anwenden lassen darf.«77

      Die Kommission, die im Vorfeld dieses Antrags unter der Leitung Ernst Ludwig von Gerlachs darüber beraten hatte, war vielen der von Wagener vorgebrachten Argumenten gefolgt, hatte sich dann aber aus pragmatischen Gründen für eine abgeschwächte Lösung

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