Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Ausgänge des Konservatismus - Stefan Breuer

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in einem sesshaften ländlichen Grundbesitze und Arbeiterstande einen materiellen Rückhalt zu schaffen«.123 Dies könne, wie es in einem weiteren Text heißt, am ehesten durch Maßnahmen geschehen, welche »den ländlichen Arbeitern die Erwerbung eines kleinen Grundeigenthums ermöglichen und thunlichst erleichtern«. Als Mittel dafür komme eine Neuordnung des Hypothekenwesens ebenso in Frage wie die Schaffung gesetzlicher Regeln, die es erlauben würden, »Parcellen von Grundbesitz abzuzweigen vom Zweck der Ansiedelung von ländlichen Arbeitern, ohne dass der agnatische oder creditorische Consens eingeholt werden muss«.124 Auf diese Weise, hieß es bald darauf, könne nicht nur der Arbeitskräftemangel in der ostelbischen Landwirtschaft behoben, sondern zugleich der sozialistischen Agitation der Wind aus den Segeln genommen werden. »Das durchschlagendste und nachhaltigste Mittel gegen die socialistischen Bestrebungen der Nichtbesitzenden ist nach allgemeinem Anerkenntniß, letztere durch angemessene Einrichtungen zu Besitzenden zu machen, ein Satz, der in hervorragender Weise auf die ländlichen Arbeiter seine Anwendung findet.« Werde dabei den Reservisten und Landwehrleuten ein Vorzugsrecht eingeräumt, ergäben sich im Nebeneffekt »grössere Militär-Colonisationen«, die hervorragend geeignet seien, in den östlichen Provinzen den Außenschutz zu übernehmen.125

      Wesentliche Anregungen hierzu dürfte Wagener von Rudolf Meyer erhalten haben, der seinerseits seit 1870 mit Rodbertus in Verbindung stand, einem ehemaligen Wortführer der Linken in der preußischen Nationalversammlung von 1848 und der Zweiten Kammer von 1849, der 1871 die Grundbesitzer zu bewegen versuchte, auf ihren Gütern »freieigenthümliche Hofstellen« einzurichten, »deren Käufer die Verpflichtung übernehmen, davon eine bestimmte Anzahl von Arbeitstagen an ein bestimmtes Gut durch beliebige Dienstboten zu leisten.«126 Darauf wird im nächsten Kapitel näher einzugehen sein. Ebenfalls im Austausch mit Meyer (wenn auch in diesem Punkt nicht mehr in Übereinstimmung mit Rodbertus) mag die Idee Konturen gewonnen haben, den neuen Nationalstaat durch ein umfassendes System der sozialen Sicherung zu fundieren, das die formellen Freiheitsrechte durch eine materiale Gerechtigkeit des Schadensausgleichs einschließlich präventiver und prophylaktischer Maßnahmen ergänzen würde. Anknüpfend an bereits 1870 ventilierte Gedanken empfahl Wagener in seiner Denkschrift vom 17. 1. 1874 die Einrichtung von obligatorischen Kranken- und Versicherungskassen, die »auf kleine, nach Gewerken abgegrenzte Bezirke zu beschränken und nur für gewisse Aushilfszwecke zu centralisiren« seien. Darüber hinaus seien Invaliden- und Altersversorgungskassen einzurichten, welche allerdings »nur in größeren Bezirken lebensfähig und jedenfalls in der Hand der Staatsgewalt zusammenzufassen« seien.127

      Über die Finanzierung dieser Einrichtungen ließ sich der Text nicht näher aus, möglicherweise aus taktischen Gründen, um Bismarck den Leitgedanken in homöopathischen Dosen näherzubringen. Rudolf Meyer dagegen wurde noch im gleichen Jahr deutlicher, wenn er in einem in vielen Formulierungen gleichlautenden Text darauf drang, »daß Arbeiter und Arbeitgeber gleich viel Beitrag zu leisten haben, also ein Arbeitgeber wöchentlich eben so viel, wie alle von ihm in der Woche beschäftigten Arbeiter zusammengenommen.«128 Bismarck dagegen setzte später eher auf ein steuerfinanziertes System, bei dem das Reich »als Hauptkostenträger und als Wohlfahrtsgarant« auftrat129, so daß schon aus diesem Grund nur ein indirekter Einfluß von Wagener und Meyer auf die in den 80er Jahren schleppend in Gang kommende Sozialgesetzgebung wahrscheinlich ist.130 Mit detaillierter Kritik hielt sich Wagener, schon aus Gründen der Loyalität gegenüber seinem früheren Dienstherren, zwar zurück, doch ließ er keinen Zweifel an seiner Überzeugung, »dass die bisherige Socialreform, selbst wenn es, mehr als ich glaube, gelingt, dieselbe in das Leben einzuführen, auch nicht entfernt das leisten wird, was man sich in conservativen und Regierungs-Kreisen davon zu versprechen scheint.«131 Dagegen sprach aus seiner Sicht nicht zuletzt ihre Verquickung mit dem Sozialistengesetz, sei es doch »eine vergebliche Hoffnung und ein aussichtsloses Bemühen, die Sympathien der Masse für die Regierung und eine conservative Socialpolitik zu gewinnen, so lange man dabei beharrt, dieselbe als Deutsche zweiter Klasse zu behandeln und unter Ausnahmegesetze zu stellen.«132

      Nach seinem Bruch mit Bismarck zog sich Wagener aus dem politischen Feld zurück, wenn man von seiner Beteiligung an der Gründung einer Social-Conservativen Vereinigung Ende 1880 absieht, die über erste Anfänge jedoch nicht hinausgelangte.133 Publizistisch blieb er immerhin präsent. Neben den eben zitierten Erinnerungen, einer eher als Pflichtübung anmutenden Reminiszenz an Die Politik Friedrich Wilhelm IV. (1883) und einer im Zusammenhang mit der konservativen Bonapartismusdeutung zu besprechenden Arbeit über Napoleon III. sind vor allem zwei 1878 anonym publizierte Schriften erwähnenswert: eine kritische Auseinandersetzung mit Schäffles Quintessenz des Sozialismus und ein Beitrag zur Lösung der sozialen Frage. Widmete sich die erstere der Aufgabe, Schäffles insgesamt zu positive, weil zu eng auf die rein volkswirtschaftlichen Aspekte bezogene Auffassung des Sozialismus um die negativen, auf die Zerstörung von Ehe und Familie, Staat und Religion zielenden Seiten desselben zu ergänzen134, unternahm die letztere den Versuch, dasjenige am Sozialismus zu retten, was sich mit dem Konservatismus vereinbaren ließ. Und das war nach Wageners Darstellung durchaus nicht wenig, ging es doch beiden um eine »Beseitigung des Individualismus durch den Kollektivismus; Ersetzung des Privat-Kapitals durch das Kollektiv-Kapital; Beseitigung der gegenwärtigen anarchischen, nur durch die ›freie Konkurrenz‹ geregelten Produktion durch eine soziale Organisation der National-Arbeit; […] Erhaltung und Wiederherstellung der Verbindung von Kapital und Arbeit und gerechte Vertheilung des gemeinsamen (gesellschaftlichen) Produktes an alle nach dem Maße und dem Werthe ihrer Leistung«. Wie sich dieses Votum für Kollektivismus mit der gleichzeitig vorgetragenen Forderung nach »Erhaltung und resp. Wiederherstellung eines Mittelstandes auf möglichst breiter Basis« vereinbaren ließ135, verriet Wagener allerdings nicht; wie ihm auch der Widerspruch nicht bewußt geworden zu sein scheint, einerseits das Parteiwesen abzulehnen und andererseits die Bildung einer »große[n] und sichere[n] Mittel-Partei« zu fordern, »in welcher die erhaltenden und bewegenden Kräfte wiederum ihre Ausgleichung finden.«136 In die Schlußbetrachtungen dieser Schrift mischt sich ein nicht zu überhörender resignativer Unterton:

      »Das geringe Maß von Hoffnung, welches wir uns noch bewahrt haben, steht deshalb auch allein darauf, den Rath, welcher kürzlich seitens des Reichskanzlers dem Grafen Andrassy für den Kaiser von Oesterreich ertheilt sein soll, auf unsere eigenen Verhältnisse angewandt zu sehen, sodaß man sich auch im deutschen Reiche endlich dazu entschließt, über die alten verbrauchten Fraktionen und Parteien zur Tagesordnung überzugehen und von dem ›Parlamente‹ an ›das Volk‹ zu appeliren.«137

      Im Rückblick wird man sagen müssen, daß Wageners Zeit seit 1866 vorbei war. Seine politische Sozialisation war entscheidend geprägt durch die Konfliktlage von 1848/49, als sich die Konservativen einer an wirtschaftlicher und sozialer Macht stetig zunehmenden liberalen Partei konfrontiert sahen, der gegenüber nur eine Doppelstrategie von Exklusion und Spaltung erfolgversprechend schien. Für diese Strategie fand Wagener 1862 in Bismarck einen Partner, allerdings einen solchen von ungleich größerer taktischer Flexibilität, der in der Lage war, im entscheidenden Moment die Schlachtordnung umzustellen. In dieser neuen Konstellation hatte Wagener keinen Platz mehr, und dies auch nicht nach den Kurskorrekturen, die Bismarck seit den späten 70er Jahren vornahm: der wirtschafts- und zollpolitischen Wende von 1878 und der sozialpolitischen Wende ab 1881. Daß ein wie immer auch bescheidenes System der sozialen Sicherung ausgerechnet von einem Kartell auf den Weg gebracht werden konnte, an dem neben seinen alten Parteigenossen in der Deutschkonservativen Partei auch die Nationalliberalen und die zwischen beiden schwankenden Freikonservativen beteiligt waren, lag zu jeder Zeit jenseits von Wageners Vorstellungskraft. Unter diesem Gesichtspunkt widerfuhr ihm kein allzu großes Unrecht, wenn die nach seinem Tod 1889 unternommenen Versuche, ihn zum Ahnherrn der von der Kaiserlichen Botschaft von 1881 inaugurierten Sozialreform zu erheben, weitgehend ohne Resonanz blieben.138 Daß dieser Gesichtspunkt freilich nicht der einzige sein kann, sollte ebenfalls deutlich geworden sein.

      4.Irrungen, Wirrungen: Rudolf Meyers Weg von der Berliner Revue zur Neuen Zeit

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