Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer
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»Die wesentliche Aufgabe bleibt hier die Sicherung eines angemessenen Arbeitslohnes durch korporative Gestaltungen, ähnlich den zünftigen, welche solange innerhalb des Handwerks alle diesfallsigen Ansprüche befriedigt haben. Zugleich würde in solchen korporativen Gestaltungen auch die rechtliche Unterlage für die politische Vertretung jener Volksklassen gefunden, und dürfte es sich für die Regierung empfehlen, zur Koupierung der beginnenden politischen Agitation das nach Ständen geordnete allgemeine Wahlrecht, modifiziert vielleicht durch die Bedingung der Wehrfähigkeit, als ihr politisches Programm zu proklamieren.«35
Drei Jahre später, nach dem Sieg über Österreich, ließ Wagener die Einschränkung auf Stände fallen und legte darüber hinaus Verwahrung gegen den Vorwurf ein, er habe sich »jemals zu dem Census-System als zu einem echten politisch-konservativen Princip bekannt.« Mit dem Census-System habe der Konstitutionalismus sein eigenes Prinzip verfälscht, es sei deshalb konsequent, dem männlichen Teil der Bevölkerung das allgemeine und direkte Wahlrecht zu gewähren, als »das nothwendige politische Korrelat der allgemeinen Wehrpflicht«.36 Dieser Vorschlag blieb bekanntlich für Preußen unrealisiert, wo bis 1918 das Dreiklassenwahlrecht weiterbestand, wurde aber für die Verfassung des Norddeutschen Bundes übernommen, dessen konstituierender Reichstag im Februar 1867 gewählt wurde.37
In der Wahl seiner theoretischen und praktischen Allianzen legte Wagener eine Haltung an den Tag, die je nach Standpunkt mehr als Unbedenklichkeit oder als Flexibilität erscheint. So erklärte er 1869, für die radikale Gewerbefreiheit und die Beseitigung der Zwangskassen zu stimmen, weil er aus der Geschichte so viel gelernt habe, »daß man ein Princip und jedes Princip sich erst muß vollenden lassen in seinen äußersten Konsequenzen, dann beginnt die Reaktion – und die wünsche ich.«38 Zur Vorbereitung eines Gesetzentwurfs über die Bildung von Gewerkvereinen, den er Bismarck vorlegen wollte39, setzte er sich im April 1866 mit Eugen Dühring (1831–1921) in Verbindung, einem Berliner Privatdozenten, auf dessen Kritische Grundlegung der Volkswirtschaftslehre (Berlin 1866) er aufmerksam geworden war. Dühring, der vor seiner scharfen Verurteilung durch Friedrich Engels (1878) erhebliche Resonanz in sozialistischen Kreisen fand40, obwohl er selbst dem Sozialismus in seinen damaligen Ausprägungen kritisch gegenüberstand, hatte das Prinzip, aus dem heraus Friedrich List seine Lehre vom Schutzzoll entwickelt hatte, »auf die verschiedenen Wirtschafts- und Gesellschaftsgruppen innerhalb der Nationen« übertragen und dies so gefaßt, »daß die Wirtschafts- und Sozialkämpfe nicht Kämpfe der Einzelnen untereinander, sondern Gruppenkämpfe sind«.41 Wie in der Weltmarktkonkurrenz die benachteiligten Nationen sich mithilfe des Schutzzolls zu behaupten vermochten, sollten in den Gruppenkämpfen innerhalb der Nationen die schwächeren Gruppen sich abschließen und organisieren, was in diesem Fall vor allem für die Arbeiter galt. In Kenntnis dieser Prämissen beauftragte Wagener Dühring mit der Abfassung einer Denkschrift über die wirthschaftlichen Associationen und socialen Coalitionen, die für die Arbeiterschaft ein freies Koalitions- und Arbeitsrecht forderte, den Staat zur Regulierung der Arbeitskämpfe in die Pflicht nahm und Ansätze zur Schaffung eines »Arbeiterrechts« entwickelte, »durch das der Staat Einfluß auf die Gestaltung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse« gewinnen sollte.42
Die Denkschrift erschien noch im gleichen Jahr im Druck, zunächst anonym, in der zweiten Auflage jedoch, zum Erstaunen und zur Erbitterung des Verfassers, unter dem Namen – Hermann Wageners. Der daraufhin ausbrechende Rechtsstreit ist von Dühring ausführlich geschildert worden und kann hier außer Betracht bleiben.43 Interessant ist der Fall vor allem deshalb, weil er zum einen die Bereitschaft Wageners zeigt, sich öffentlich mit der Forderung der Arbeiterschaft nach höheren Löhnen, gewerkschaftlicher Organisation und einer Legalisierung der »wirthschaftlichen Kriegführung gegen die Kapital-Herrschaft« zu identifizieren44, zum andern aber eine Übereinstimmung in der Strategie signalisiert, »auf die allseitige combinatorische Vereinigung antagonistischer Regungen« hinzuarbeiten.45 Denn genau darin waren sich Wagener und Dühring einig: »Die alten Parteien mussten, wenn nicht eine innere Wandlung, dann jedenfalls eine äussere Kreuzung erfahren.«46
Wenn man dennoch nicht zusammenkam, so dürfte dies von Wageners Seite her daran gelegen haben, daß er damals noch mit dem Gedanken liebäugelte, in den zu gründenden Gewerkvereinen »die beiden Klassen des gewerblichen Betriebes, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, gleichmäßig« zu vereinigen.47 Von Dührings Seite her erwies sich als Hindernis dessen Forderung, den oppressiven Staat zugunsten der aus Wirtschaftsgemeinschaften bestehenden ›freien Gesellschaft‹ zurückzudrängen48, was für Wagener entschieden zu weit ging. Denn so groß seine Vorbehalte gegen eine bürokratisch-absolutistische Gestaltung des Staates und seine Sympathie für eine Selbstregierung und -verwaltung intermediärer Gruppen auch sein mochten: daß ein moderner Staat ohne starke Zentralgewalt nicht vorstellbar war, stand für ihn fest.49 Eine Regierung, hieß es denn auch kategorisch, kann auf die Dauer nicht bestehen, »wenn es nicht eine Körperschaft giebt, wo die Souveränität voll, unbedingt und ungetheilt vertreten ist«.50 Und das war ein Postulat, das Wagener nicht nur von Dühring und vom Korporatismus trennte, sondern ebensosehr vom historischen Konservatismus.
II.
Wageners Version des sozialen Königtums, von seinem Adlatus Rudolf Meyer nach 1871 rasch zum »hohenzollernsche[n] Kaiserthum der socialen Reform« aufgewertet51, scheint gleich in doppelter Hinsicht genuin moderner Natur zu sein: zum einen durch seine Neubegründung der Legitimität von bestimmten Funktionen her anstatt vom Gottesgnadentum52; zum andern durch die spezifische Auslegung dieser Funktionen auf materiale Postulate hin, wie sie für den modernen Sozialstaat typisch sind.53 Eine derart eindeutige Positionsbestimmung ist jedoch im Hinblick auf Wagener nicht durchzuhalten. In seinen Äußerungen und Aktivitäten durchkreuzen sich moderne und vormoderne Bestrebungen und gehen bisweilen intrikate Verbindungen ein, die eine genauere Einordnung erschweren. So ist zwar Funktionalität zweifellos ein in der Moderne besonders scharf ausgeprägtes Prinzip, doch läßt sich schwerlich bestreiten, daß sich das Königtum in allen geschichtlichen Erscheinungsformen auch durch die Erfüllung bestimmter Funktionen legitimiert hat, und daß unter diesen Wohlfahrtszwecke jedweder Art eine erhebliche Rolle spielten. Das gilt für das charismatische Königtum der Frühzeit, zu dessen Verpflichtungen es gehörte, das ›Wohlergehen der Beherrschten‹ sicherzustellen.54 Es gilt für das patrimoniale Königtum mit bürokratischer Verwaltung, die in ihrem »Interesse an der Zufriedenheit der Beherrschten« zu einer an utilitarischen oder materialen Idealen orientierten Regulierung der Wirtschaft tendiert, womit stets eine »Durchbrechung ihrer formalen, an Juristenrecht orientierten, Rationalität« verbunden ist.55 Und es gilt schließlich auch noch für das demokratisch legitimierte Königtum, die auf der Volkssouveränität beruhende plebiszitäre Herrschaft, die infolge ihrer »Legitimitätsabhängigkeit von dem Glauben und der Hingabe der Massen« genötigt ist, »materiale Gerechtigkeitspostulate auch wirtschaftlich zu vertreten, also: den formalen Charakter der Justiz und Verwaltung durch eine materiale (›Kadi‹-) Justiz (Revolutionstribunale, Bezugscheinsysteme, alle Arten von rationierter und kontrollierter Produktion und Konsumtion) zu durchbrechen.«56
Wie sehr bei Wagener moderne und vormoderne Motive ineinander verschlungen waren, zeigen die Initiativen, die er 1856 zur Revision der preußischen Verfassung von 1850 entfaltete. Nach dem Erfolg der Konservativen bei den Wahlen vom Herbst 1855 konstituierte sich im Abgeordnetenhaus eine »Commission für Verfassungs-Angelegenheiten« unter dem Vorsitz Ernst Ludwig von Gerlachs, die einen weiteren Umbau der bereits mehrfach revidierten Verfassung in die Wege leiten sollte. Der radikalste Vorstoß wurde im Januar 1856 von Wagener vorgetragen und noch im März Gegenstand einer erregten Debatte im Abgeordnetenhaus, an der sich auch die Öffentlichkeit beteiligte.57 Er zielte mit Artikel 4 auf eine zentrale Hinterlassenschaft der Revolution, die die Gleichheit aller Preußen vor dem Gesetz statuierte und dies mit zwei weiteren Bestimmungen verknüpfte: der Aufhebung der Standesvorrechte und dem gleichen Zugang aller dazu Befähigten zu den öffentlichen Ämtern. Wageners Antrag