Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Ausgänge des Konservatismus - Stefan Breuer

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sehr viel weiter gehenden, auf das »menschlich erreichbare Maß an Vernünftigkeit des Gesetzes« zielenden Sinn des Rechtsstaates, wie er vom Frühkonstitutionalismus entwickelt worden sei, auf ein rein formelles Verständnis reduziert zu haben, das als »Ersatz für die demokratische Partizipation der Bürger« fungiert habe.115 Soweit damit gemeint ist, daß Stahl kein Demokrat war, ist dem nicht zu widersprechen. Im Verständnis des Rechtsstaates jedoch als einer Ordnung, die sich durch die Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz und die Einräumung einer freien Individualsphäre auszeichnet, war die Differenz seiner Vorstellungen zu altliberalen Konzeptionen, wie sie etwa Robert von Mohl vertrat, nicht allzu groß.116 Für einen Liberalismus »im ächten Sinn«, der dem Untertan Sicherungen gebot gegen die Obrigkeit, »selbst gegen die Gesetze des Staates, daß sie nicht in die Sphäre, die nur seiner Freiheit gebührt, eingreifen«, hatte Stahl offensichtlich einiges übrig.117 Und so überrascht es denn auch nicht, bei diesem Bannerträger des Konservatismus auf Elogen zu stoßen, die dem Liberalismus ausdrücklich bescheinigen, »den überkommenen Zustand geläutert, ihn in Einrichtungen und Sitten menschlich gemacht« und sich damit eine eine »unleugbare Berechtigung« erworben zu haben:

      »Ihm verdankt man die Abschaffung der Tortur, der grausamen Strafen und der Leibeigenschaft, die religiöse Toleranz, die Erhebung und das Selbstgefühl der mittlern und selbst der geringern Klassen, die ungehemmte Entfaltung aller geistigen Kräfte, die volle Würdigung, die den menschlichen Werth unabhängig von Stand und Geburt zu schätzen weiß. Dieser weltgeschichtliche Beruf und dieses Verdienst des Liberalismus soll nicht verkannt werden, und es hat deswegen auch nicht an ausgezeichneten Trägern desselben gefehlt in der Epoche, in welcher solches Geltendmachen des Menschlichen die Hauptaufgabe war.«118

      Von hier aus gesehen kann man Stahl zu den Autoren rechnen, die sich für eine Verschmelzung von Konservatismus und Liberalismus in dem von Kondylis bezeichneten Sinn stark gemacht haben.119

      IV.

      Der Rechtsstaat wie auch der ihm korrespondierende nationalökonomische Zustand, das sah Stahl allerdings genauer als die Liberalen, waren instabile Systeme, die leicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnten. Der nationalökonomische Zustand gestaltete sich weniger nach den Vorgaben von Adam Smith, denen zufolge sich die interessegeleiteten Handlungen der Einzelnen durch die unsichtbare Hand des Marktes zu einer harmonischen Einheit fügen sollten, als vielmehr nach denjenigen von Simonde de Sismondi, für den aus der Konkurrenz eine Anhäufung des Reichtums bei Wenigen und eine »Verarmung der großen Masse« resultierten – Folgen, die Eingriffe in den Wirtschaftsprozeß unabdingbar machten, wenn anders die bestehende Ordnung nicht gesprengt werden sollte.120 Insbesondere sei es geboten, der unbedingten Gewerbe- und Handelsfreiheit entgegenzutreten und Maßnahmen zu ergreifen, die »nicht bloß die Möglichkeit künftigen Vermögens in abstracto eröffnen, sondern vor Allem das bestehende Auskommen den Inhabern zu erhalten suchen.«121

      Ebenso instabil erschien Stahl der Rechtsstaat, sei er doch der permanenten Gefahr eines ›arbitrary government‹ ausgesetzt122, die ihm gleich von mehreren Seiten drohe: von denjenigen Fraktionen der Partei der Legitimität, die sich entweder dem bürokratischen Absolutismus verschrieben hatten oder theokratischen Ordnungsmodellen anhingen, welche die Eigengesetzlichkeiten von Staat und Recht leugneten und den religiösen Imperativen unmittelbare Geltung verschaffen wollten; aber auch von den Parteien der Revolution, für die Staat und Recht bloße Mittel waren, sei es zur Absicherung der wirtschaftlichen Freiheit (wie die Liberalen), sei es zur Umverteilung des Reichtums (wie die Sozialisten). Stahl lag nicht falsch, wenn er im Unterschied zu späteren Kritikern der konstitutionellen Monarchie wie Carl Schmitt oder Ernst-Wolfgang Böckenförde eine Ausbalancierung der auseinanderstrebenden Kräfte für möglich hielt, wie sie auch von der neueren Verfassungsgeschichtsschreibung anvisiert wird.123 Worin er sich allerdings irrte, war sein Glaube, sich damit noch in der Kontinuität des historischen Konservatismus zu befinden.

      Sollte der Rechtsstaat funktionieren, so sein Gedankengang, bedurfte es einer Instanz, die die »Erzwingbarkeit« des Rechts gewährleistete.124 Das aber setzte einen Status derselben voraus, in dem diese »alles Ansehen in sich vereinigt und keinen Richter auf Erden hat« – eine Bedingung, die Stahl in dem modernen, erstmals von Bodin ins Spiel gebrachten Konzept der »Souveränetät« erfüllt sah.125 Zur vollen Entfaltung habe Hobbes dieses Konzept gebracht und sich »ein wahres wissenschaftliches Verdienst« erworben, indem er »den Gedanken der Einheit des Staats im Gegensatze einer bloßen Gesellschaft und, damit zusammenhängend, den Gedanken der Souveränetät […] zuerst in seiner ganzen Tiefe ausgesprochen« habe.126 Seither wisse man, daß der Staat als die »Anstalt zur Beherrschung des gesammten menschlichen Gemeinzustandes […] die Eine, oberste, die souveräne Macht auf Erden« sei, deren Gesetzgebungsmacht keine Grenze gesetzt sei, auch nicht in Form einer richterlichen Kontrolle der verfassungsmäßigen Statthaftigkeit der Verordnungen.127

      In dieser Eigenschaft, die sich nach Stahl letztlich ›göttlicher Fügung‹ verdankte, lag jedoch zugleich das Risiko einer Überziehung dieser Macht in Richtung einer »Omnipotenz« bzw. eines »Absolutismus des Staates«.128 Das hatte schon der historische Konservatismus so gesehen und deshalb dafür plädiert, die Abkoppelung des Staates von der Gesellschaft rückgängig zu machen. Stahl hingegen reagierte anders. Er trennte zwischen der souveränen und der absoluten Macht auf Erden, indem er dem Staat unumschränkte Gewalt nur in formeller, nicht in materieller Gewalt zuschrieb. Danach könne der Staat sämtliche Gewohnheiten und Traditionen, »Freiheit, Vortheil, Rechte der Individuen, der Gemeinschaften, der Kirche in der Sphäre, welche überhaupt seiner Anordnung unterliegt«, beliebig ändern, Sachen enteignen oder Rechte abschaffen, und doch mit Grund Verbindlichkeit und Gehorsam für seine Anordnungen erwarten.129 Eine Schranke sollten seine Eingriffe dagegen in jenen Sphären finden, die einer »höheren Ordnung« zugehörten, worunter Stahl keineswegs nur die religiösen Überzeugungen verstand, sondern auch die »politische Gesinnung«, die Freiheit der Berufswahl oder die Erziehung. Zwar schlug der formelle Anspruch auf Gehorsam auch hier insofern durch, als die staatlichen Anordnungen nicht aktiv durchkreuzt werden durften, doch stehe den Betroffenen »die Protestation und der passive Widerstand« zu.130

      Optimal verwirklicht war diese temperierte Form der Souveränität in Staaten, die sich dem »monarchischen Prinzip« unterworfen hatten. War die Souveränität »ein reiner und unmittelbarer Rechtsbegriff«, so bezeichnete das monarchische Prinzip »eine thatsächliche Stellung«131, die, mit Max Weber zu reden, in der Sphäre des realen Geschehens anstatt in derjenigen des ›ideellen Geltensollens‹ lag, daher auch lediglich »empirische Geltung« beanspruchen konnte.132 Es gewährte dem Herrscher die Kompetenz zur Abfassung der Gesetze, zur alleinigen Durchführung der Administration und zur Verfügung über die dafür erforderlichen Mittel, räumte aber zugleich den hiervon Betroffenen bzw. ihren Vertretern, den »Reichsständen«, Rechte ein, die sowohl Schutzmittel zur Einhaltung der Verfassung betrafen als auch eine Mitwirkung an der Gesetzgebung ermöglichten.133 Unter den fortgeschrittenen Bedingungen der Gegenwart seien die Stände nicht mehr auf die Geltendmachung isolierter Befugnisse beschränkt, vielmehr komme ihnen »die große mächtige Bedeutung [zu], den gesammten öffentlichen Rechtszustand zu schützen, sie sind die Wächter und Garanten für Erhaltung und Beobachtung der Gesetze, für Ordnung und gesetzmäßige Verwendung im Staatshaushalte und üben eine moralische Macht der Anregung und Fortbildung.«134

      Die Gefahr, daß die Balance nach der einen oder anderen Seite kippte, wollte Stahl nicht grundsätzlich in Abrede stellen. Es erschien ihm jedoch möglich, dagegen ein hinreichendes Maß an Sicherungen zu mobilisieren. Die herausgehobene Stellung des Fürsten legitimierte er nicht allein mit dessen Funktionen, sondern auch mit religiösen und nicht zuletzt ästhetischen Argumenten, die die Kategorie des »Erhabenen« bemühten, um den Anstalten »eine höhere Bedeutung« zuzuschreiben, seien diese doch nicht allein durch menschliche Zwecke bestimmt, sondern auch durch das »Urbild«, das sie darstellen sollten. Stahl zögerte

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