Berufung. Timothy Keller

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Berufung - Timothy Keller

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Geschichte „Leaf by Niggle“ (deutsch: „Blatt von Tüftler“).

      Den Baum gibt’s wirklich

      Als Tolkien eine Zeit lang an seinem Herrn der Ringe gearbeitet hatte, kam er an einen Punkt, wo es nicht weitergehen wollte.9 Was er schreiben wollte, war eine Geschichte, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte. Als führender Experte im Altenglischen und in anderen alten nordeuropäischen Sprachen wusste er, dass (anders als bei den Griechen und Römern oder sogar Skandinaviern) die meisten alten britischen Mythen über die Bewohner der Märchen- und Sagenwelt – Elfen, Zwerge, Riesen und Zauberer – verloren gegangen waren. Tolkiens Traum war es immer schon gewesen, eine kreative Rekonstruktion dieser altenglischen Mythologie zu schaffen. Der Herr der Ringe basierte auf dieser verlorenen alten Welt. Für sein Projekt musste Tolkien mindestens in den Grundzügen mehrere fiktive alte Sprachen und Kulturen schaffen sowie die Jahrtausende umspannenden Chroniken mehrerer Völker – all dies, um die Tiefe und das realistische Flair zu erhalten, die er für eine fesselnde Geschichte für absolut notwendig hielt.

      Bei seiner Arbeit an dem Manuskript kam Tolkien an einen Punkt, wo die Geschichte sich immer mehr verzweigte. Die Protagonisten wanderten in verschiedene Gegenden seiner imaginären Welt, wo sie diverse Gefahren zu bestehen hatten und die Handlungsstränge immer komplizierter wurden. Es war eine enorme Herausforderung, all diese Handlungen und Nebenhandlungen zu entfalten und jede zu einem befriedigenden Ausgang zu führen. Und nicht nur das. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen, und auch wenn Tolkien mit seinen 50 Jahren nicht als Soldat einberufen wurde, fiel der Schatten des Krieges schwer auf ihn. Er hatte die Schrecken des Ersten Weltkrieges miterlebt und nicht vergessen, und jetzt schien England kurz vor der Invasion durch Hitlers Truppen zu stehen. Wer wusste, ob Tolkien, selbst als Zivilist, den Krieg überleben würde?

      Würde es ihm je gelingen, das Werk seines Lebens zu vollenden? Er arbeitete ja nicht erst seit ein paar Jahren daran. Als er mit dem Herrn der Ringe begann, hatte er bereits mehrere Jahrzehnte an den Sprachen, Chroniken und Geschichten gearbeitet, die den Hintergrund des Romans bildeten. Ihn womöglich nicht fertigstellen zu können war „ein furchtbarer und betäubender Gedanke“10. An der Straße an Tolkiens Haus stand damals eine Pappel. Eines Morgens musste Tolkien feststellen, dass sie von einem Nachbarn gestutzt worden war. Er fing an, seine Mythologie als seinen „eigenen inneren Baum“ zu sehen, dem womöglich das gleiche Schicksal bevorstand. Er hatte „keine geistige Energie oder Erfindungsgabe mehr.“11 Dann wachte er eines Morgens auf und hatte eine kurze Geschichte im Kopf, die er sogleich niederschrieb. Als der Dublin Review ihn um einen Beitrag bat, schickte er sie ein, unter dem Titel „Leaf by Niggle“. Sie handelte von einem Maler.

      Im ersten Absatz der Geschichte erfahren wir zwei Dinge über diesen Maler. Erstens: Sein Name ist Niggle. Das Oxford English Dictionary, an dem Tolkien mitarbeitete, gibt folgende Definition des englischen Verbs to niggle: „planlos oder unzweckmäßig arbeiten, Zeit auf belanglose Details verschwenden, es in Kleinigkeiten übergenau nehmen“12. In der deutschen Übersetzung heißt Niggle denn auch „Tüftler“. Niggle alias Tüftler war natürlich Tolkien selber, der sehr gut wusste, dass dies eine seiner eigenen Schwächen war. Er war ein Perfektionist, der mit seinen Werken nie zufrieden war, sich leicht durch unwichtige Details von wichtigeren Dingen ablenken ließ und zum Zögern und Sich-Zersorgen neigte, eben wie Niggle auch.

      Wir erfahren über Niggle weiter: „Er sollte eine lange Reise machen. Er wollte gar nicht fahren; die Sache war ihm ausgesprochen zuwider, aber er konnte sich ihr nicht entziehen.“ Er schiebt die Reise ständig auf, aber weiß, dass er sie irgendwann wird antreten müssen. Tom Shippey, der wie Tolkien in Oxford altenglische Literatur lehrte, erklärt, dass in der altenglischen Literatur diese notwendige lange Reise der Tod war.13

      Niggle liegt vor allem ein Bild am Herzen. Es hat mit einem Blatt begonnen, das ihm durch den Kopf ging. Aus dem Blatt wird ein Baum, und dann „begann überall um den Baum herum und hinter ihm … eine Landschaft sich auszubreiten; undeutlich sah man einen Wald, der sich über das Land hinzog, und Berge mit schneebedeckten Gipfeln.“ Niggle verliert das Interesse an seinen anderen Bildern, und um seine Vision zu verwirklichen, macht er sich eine Leinwand, die so groß ist, dass er zum Malen auf eine Leiter steigen muss. Er weiß, dass er sterben muss, aber er sagt sich: „Jedenfalls werde ich dieses eine Bild noch fertigbekommen, mein ureigenes Bild, ehe ich auf diese abscheuliche Reise gehen muss.“

      Und er malt und malt, „tupfte hier einen Pinselstrich hin und rieb dort ein Fleckchen wieder weg.“ Aber viel bringt er nicht zuwege, und das hat zwei Gründe: Erstens ist er einer jener Maler, „die Blätter besser malen als Bäume. Er pflegte viel Zeit auf ein einziges Blatt zu verwenden und zu versuchen, seine Form, seinen Glanz und das Glitzern der Tautropfen an seinen Rändern einzufangen“, mit dem Ergebnis, dass er trotz all seiner Arbeit nur wenig auf die Leinwand bringt. Der zweite Grund ist seine „Gutherzigkeit“, die ihn seine Arbeit immer wieder unterbrechen lässt, weil ein Nachbar ihn um eine Gefälligkeit bittet, vor allem ein gewisser Herr Paris, der keinen Sinn für seine Malkünste hat.

      Eines Abends, als Niggle spürt, dass seine Zeit fast abgelaufen ist, bittet Herr Paris (der ein lahmes Bein hat) ihn, hinaus in die Kälte zu gehen und einen Arzt für seine kranke Frau zu holen. Niggle tut dies – und wird selber krank. Kaum genesen, versucht er verzweifelt, sein Bild fertigzubekommen. Doch da kommt sein Fahrer: Die Zeit für die Reise ist gekommen. „Ach du lieber Himmel!“, sagt Niggle und beginnt zu weinen. „Und das Bild ist noch nicht einmal fertig!“

      Einige Zeit nach seinem Tod bemerken die Leute, die jetzt in seinem Haus wohnen, auf einem Fetzen von der ehemaligen großen Leinwand „ein schönes Blatt“, das intakt geblieben ist. Es landet schließlich im Stadtmuseum, „und lange Zeit hing dort ‚Blatt, von Tüftler‘ in einem stillen Winkel, und ein paar Besucher bemerkten es.“

      Aber zurück zu Niggle selber; seine Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sein Fahrer setzt ihn in einen Zug, der ihn ins Jenseits bringt. Dort erlebt er eine Szene, wo er zwei Stimmen hört. Die eine, strenge, scheint die der Gerechtigkeit zu sein; sie stellt fest, wie viel Zeit er in seinem Leben vergeudet und wie wenig er zustande gebracht hat. Die andere Stimme, die sanft, aber nicht weich ist und die der Gnade zu sein scheint, hält dagegen, dass Niggle doch so viel für andere getan hat, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Niggle darf mit einem zweiten Zug aufs Land fahren. Als er dort ankommt, sieht er etwas Wunderbares: „Vor ihm stand der Baum, sein BAUM, fertig. Wenn man das von einem lebenden Baum sagen kann, dessen Blätter sich entrollen, dessen Äste wachsen und sich im Wind biegen, was Niggle so oft gespürt oder geahnt und so oft nicht hatte einfangen können. Er starrte auf den BAUM, hob langsam die Arme und breitete sie weit aus. ‚Es ist eine Gabe!‘, sagte er.“14

      Die Welt vor dem Tod – seine alte Heimat – hat Niggle fast völlig vergessen; dort ist sein Werk unvollendet geblieben, und von den paar Bruchstücken haben nur sehr wenige Menschen etwas. Doch in seinem neuen Land, der ewig wirklichen Welt, entdeckt er, dass sein Baum mitnichten ein Wunschtraum von ihm war, der mit ihm gestorben ist, sondern dass er fertig und vollendet dasteht, als Teil der wahren Realität, die für immer bestehen und Menschen Freude bringen wird.15

      Ich habe diese Geschichte oft vor Menschen aus verschiedenen (vor allem jedoch künstlerischen) Berufen erzählt, und egal, was sie über Gott und das Leben nach dem Tod glauben, viele von ihnen berührt sie tief. Tolkien hatte ein tief christliches Verständnis der Kunst, ja der Arbeit überhaupt.16 Er glaubte, dass Gott uns Talente und Gaben gibt, damit wir füreinander das tun können, was er für uns und durch uns tun will. Als Schriftsteller z. B. konnte er durch das Erzählen von Geschichten, die das Wesen der Realität darstellen, das Leben der Menschen mit Sinn füllen.17 Niggle durfte erfahren, dass der Baum, den er nur geahnt hatte, „ein echter Teil der Schöpfung“ war18 und dass selbst das bisschen davon, das er den Menschen auf Erden enthüllt

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