Die böhmische Großmutter. Dietmar Grieser
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Vorwort
Eigentlich ist sie ja eine mährische oder noch genauer eine schlesische Großmutter. Anna Ondrusch, die mich zwischen meinem dritten und elften Lebensjahr aufgezogen hat, stammt aus dem sogenannten Hultschiner Ländchen, jener rund 11000 Einwohner zählenden deutschen Sprachinsel im Kreis Ratibor, die im Zuge der Neuordnung der Staatengemeinschaft nach dem Ersten Weltkrieg an die frischgegründete Tschechoslowakei abgetreten worden ist.
Großmutter Anna nahm sich meiner an, weil wir drei Buben waren und meine Mutter, auch durch das schwere Nervenleiden des Vaters übermäßig in Anspruch genommen, über jede noch so geringe Entlastung froh war. Auch war im Haushalt der Großmutter, die kurz zuvor Witwe geworden war, reichlich Platz für einen Kostgänger, und da ihre Speisekammer bis in die Kriegstage hinein mit nahrhaften Vorräten gefüllt war, ging es mir, dem Jüngsten von uns dreien, um vieles besser als meinen Brüdern, die mir denn auch meinen Sonderstatus unverhohlen neideten und mich als »Nanna-Kindl« verspotteten. Sie taten dies umso mehr, als Großmutter Anna sich im Umgang mit uns Buben einer Art Zweiklassenjustiz befleißigte: Die anderen zwei, zugegebenermaßen »schlimmer« als ich, waren in ihren Augen die Bösen, ich, von Natur unterwürfiger, der Gute.
Ich kann also über die gewiß überstrenge, in ihrer Gottesfürchtigkeit auch vor Bigotterie nicht gefeite Frau kaum etwas Schlechtes sagen; außerdem verbarg sich hinter ihrer stattlichen Erscheinung mit dem stets adretten Outfit ein im Grunde gutmutiges Naturell, das freilich nur demjenigen zugute kam, der Bereitschaft zeigte, sich ihr widerspruchslos unterzuordnen. Ihr trauriges Ende tat ein übriges, eventuelle Vorbehalte gegen Großmutter Anna zum Verstummen zu bringen: Auf einem der Aussiedlertransporte im Herbst 1945 starb die Zweiundsiebzigjährige auf einem Acker vor den Toren der sächsischen Kreisstadt Löbau (wo der Vertriebenenzug angehalten hatte, um den ausgemergelten Greisen eine letzte Möglichkeit zu geben, ein paar Feldfrüchte aufzulesen) am Hungertod.
Es war also die eigene Familiengeschichte, die mich auf einer meiner Reisen durch Nordostmähren auf die Idee brachte, mich für einige Zeit im Land unserer neuen EU-Nachbarn umzusehen, wenn auch weniger auf den Spuren der »böhmischen Großmutter«, sondern um jene nicht minder schicksalsträchtigen »Verwandtschaften« aufzuhellen, die das heutige Österreich nach wie vor mit dem »heimlichen böhmischen Reich« verbinden (wie der Publizist Willy Lorenz – in nostalgischer Anspielung auf das »Heilige Römische Reich« – die Heimat seiner Ahnen apostrophiert hat).
Ich hielt mich dabei an die auch von Lorenz übernommene Sprachregelung, entgegen aller Geographie das gesamte heutige Tschechien unter dem Begriff »Böhmen« zu subsumieren, also dem eigentlichen Kernland dieses Namens auch die Landesteile Mähren und Österreichisch-Schlesien zuzuschlagen. Es macht die Sache nicht nur einfacher und vollständiger, sondern ist auch durch historische Verwurzelung begründet: Erst Friedrich der Große hat die »Länder der böhmischen Krone« zerrissen – mit der Lostrennung Schlesiens im Siebenjährigen Krieg.
Ich wollte das Land kennenlernen, aus dem Franz Schuberts Vater und Egon Schieles Mutter stammen, in dem Gustav Mahler, Karl Kraus und Sigmund Freud geboren sind, das Adalbert Stifter, Marie von Ebner-Eschenbach und Carl Postl alias Charles Sealsfield, Franz Werfel, Franz Kafka und Egon Erwin Kisch, Alfred Kubin und Adolf Loos, Leo Slezak und Maria Jeritza, den Starfußballer Matthias Sindelar und die »Wunderärzte« Johann Schroth und Vinzenz Prießnitz hervorgebracht hat, das Land, in dem sich Mozart wohlgefühlt, Casanova seinen Lebensabend verbracht, Kanzler Metternich seine Güter bewirtschaftet und Kaiser Franz Joseph den Thron bestiegen hat, wo Goethe seiner letzten Liebe, Ulrike von Levetzow, und Grillparzer seiner »Ahnfrau« begegnet ist. Hier sind Rainer Maria Rilke und Robert Musil zur Schule gegangen, hier hat der Augustinermönch Gregor Mendel die folgenreichen Experimente für seine Vererbungslehre durchgeführt, hier hat Albert Einstein seine ersten Überlegungen zur Relativitätstheorie angestellt, hier liegt der legendenumwobene Pandurengeneral Freiherr von der Trenck begraben.
Ein besonders markantes Beispiel für deutsch-böhmische Wurzeln bietet der frühere österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky. Großvater Benedikt, Oberlehrer in dem kleinen zwischen Tabor und Budweis gelegenen südböhmischen Dorf Kaladei und später Vizedirektor der Lehrerbildungsanstalt Budweis, erhielt noch lange nach seiner Pensionierung und Übersiedlung nach Wien alljährlich Besuch von der Bauernschaft seiner Heimatgemeinde, die ihn zum Geburtstag mit Schinken, Würsten und selbstgebackenem Brot erfreuten. Und Moritz Felix, der Großvater mütterlicherseits, hat als Konservenfabrikant halb Europa mit seinen Znaimer Gurken versorgt. Im Stammhaus in Trebitsch hat der junge Bruno Kreisky so manchen Sommer die Ferien zugebracht.
Böhmen und Wien: eine endlose Geschichte. Nicht einmal Clemens Maria Hofbauer, der Schutzpatron der Reichshaupt- und Residenzstadt, und Anton Pilgram, der Dombaumeister von St. Stephan, sind gebürtige Wiener, sondern stammen aus der Gegend um Znaim bzw. Bränn – ganz zu schweigen von den tausenden und abertausenden Pospischils, Swobodas und Vlks, die das heutige Wien bevölkern, und selbst der Räuber Hotzenplotz, den der Kinderbuchautor Otfried Preußler in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts zur Berühmtheit gemacht hat, hat mährische Wurzeln, denen der Literaturtourist in der kleinen Ortschaft Osoblaha nachgehen kann …
Umgekehrt ist die von den Tschechen wie ein Nationaldenkmal verehrte Dichterin Božena Němcová, deren autobiographischer Roman »Babička« nach wie vor in keinem Bücherschrank zwischen Pilsen und Brünn fehlt, nicht in dem nach ihr benannten »Tal der Großmutter« am Fuß des Riesengebirges zur Welt gekommen, wo ihre »Bilder aus dem Landleben« angesiedelt sind, sondern – in Wien. Das Thema hat also viele, sehr viele Seiten, und einige dieser Seiten sollen in dem Buch, das ich hiermit vorlege, aufgeschlagen werden.
Zum Schluß noch ein Wort mehr technischer Natur. Welche Schreibweise, so war die Frage, sollte ich für die in den einzelnen Kapiteln vorkommenden Ortsnamen wählen: die heutige tschechische oder die frühere deutsche bzw. eingedeutschte? Bei Städten wie Olmütz, Brünn oder Prag war die Sache klar: Kein Autor eines deutschsprachigen Buches wird sie Olomouc, Brno oder Praha nennen. Aber was ist mit den anderen, den weniger geläufigen – mit Litoměřice, Šumperk, Příbor? Die Entscheidung fiel mir nicht leicht. Ich habe sie schließlich – ohne den geringsten Gedanken an Deutschtümelei – rein sachlich getroffen: Als Sigmund Freud zur Welt kam, hieß das heutige Příbor mehrheitlich Freiberg, und ebenso verhält es sich mit Leo Slezaks Mährisch Schönberg und mit Alfred Kubins Leitmeritz. Bleiben wir also bei den früheren Ortsnamen. Wer ihre heutige Schreibweise klären und sich auf den heutigen Landkarten zurechtfinden will, bediene sich der Konkordanz im Schlußteil des Buches.
Hinaus mit dem Schuft!
In ein paar Wochen wird er zwanzig, schon im Vorjahr hat er sein Studium an der Akademie abgeschlossen, auch die ersten Ausstellungen liegen hinter ihm. Woran es Egon Schiele mangelt, ist das liebe Geld: Oft reicht es nicht einmal, um das Nötigste an Malutensilien zu kaufen. Ob er da auf Dauer das Atelier in der Alserbachstraße 39 wird »halten« können, das er vor kurzem bezogen hat? Das Leben in der Großstadt ist verdammt teuer; auch die Rivalität und der Neid mancher Kollegen verleiden ihm Wien.
Im Mai 1910 steht sein Entschluß fest: Er will versuchen, in Kru-mau ein neues Leben zu beginnen. Die kleine Stadt an der Moldau ist ihm schon seit Kindertagen vertraut: Es ist der Geburtsort seiner Mutter; mehrmals war man bei den drei Tanten, die nach wie vor in Krumau