Die böhmische Großmutter. Dietmar Grieser

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Die böhmische Großmutter - Dietmar Grieser

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uns einfach, weil wir rot sind. Ich muß bis 6. August ausgezogen sein, will aber schon am 4. fortfahren und zwar nach Neulengbach. Ich bitte Sie, senden Sie mir irgendeinen Betrag; ich muß außerdem einige Kisten transportieren.«

      »Weil wir rot sind« – über diese Formulierung werden die Schiele-Biographen in späteren Jahren die unterschiedlichsten Überlegungen anstellen. Christian Nebehay sieht es so:

      »Als ›rot‹ wurde vor 1914 jeder bezeichnet, der nicht regelmäßig in die Kirche ging. Nach allem, was uns bekannt ist, war Schiele kein politisch Gebundener. Wir glauben vielmehr, sein ›Rot‹ als Gegensatz zu ›Schwarz-gelb‹ deuten zu sollen, den Farben der Monarchie.« Und Franz Wischin ergänzt: »Der Vorwurf, ein ›Roter‹ zu sein, beinhaltete in der Monarchie noch nicht die Gleichsetzung mit einem parteipolitischen Bekenntnis, sondern galt im Volksmund als Synonym für antiautoritär, fortschrittlich, freizügig und unkonventionell.«

      Wie auch immer – die Kündigung ist ausgesprochen, und die Behörde legt noch ein Schäuferl nach, indem sie zwei Polizeibeamte losschickt, die dem Verfemten auch den offiziellen Ausweisungsbescheid aushändigen.

      Schieles Schlußwort, am Tag nach seiner Ankunft in Wien in einem Brief an Arthur Roessler zu Papier gebracht:

       »Ich will nicht an Krumau denken, so lieb habe ich die Stadt. Aber die Leute wissen nicht, was sie tun.«

      Ganz und für alle Zeiten von der »Stadt am blauen Fluß« zu lassen, fällt ihm dennoch schwer: Zumindest zu kurzen Aufenthalten kehrt er 1913 und 1914 wieder, und seinen letzten Besuch in Krumau, ein Jahr vor seinem frühen Tod, nützt er sogar dazu, Wally Neuzils Nachfolgerin Edith Harms, die er 1915 geheiratet hat, die böhmische Heimat seiner Mutter nahezubringen. Ob er ihr bei dieser Gelegenheit auch die Stätte seines höchsten Glücks und zugleich seiner tiefsten Schmach gezeigt oder aber um das »herrliche Sommerhäuschen«, aus dem er verjagt worden ist, einen großen Bogen gemacht hat, wissen wir nicht. Es war in der Zwischenzeit umgebaut und vergrößert worden, hatte einen zweiten Zugang erhalten, war aber weiterhin – da ohne Wasser, Strom und Kanalisation – nur eingeschränkt bewohnbar. Während des Zweiten Weltkrieges als Flüchtlingsquartier genutzt, wird es nach der Vertreibung seiner neuen Besitzer im Sommer 1945 ein Verfallsobjekt und erst gegen Ende der achtziger Jahre zu neuem Leben erweckt.

      Einer der heutigen Grundstücksnachbarn, eine ehemalige Kunsterzieherin aus Deutschland, die sich wie Schiele in Krumau verliebt und am südlichen Moldauufer angesiedelt hat, zeigt mir den Weg, den ich ohne fremde Hilfe niemals finden würde: An der Brücke, die früher von der Linzerstraße zur alten Schießstätte führte, klettern wir die paar Stufen zu dem Wiesengrund hinab, der hier den Flußlauf säumt, und bekommen nach Durchqueren eines Übungsgeländes für radfahrende Kinder das gesuchte Objekt ins Visier: ein brüchiges Mäuerchen, ein paar hochaufragende Bäume und dahinter, strahlend hell getüncht und mit frischem rotem Mansardendach gekrönt, Schieles Gartenhaus. Um seinen weiteren Erhalt zu sichern, ist es unter staatlichen Denkmalschutz gestellt. Würde Schiele heute hier Einzug halten, fände er im Gegensatz zu den primitiven Wohnverhältnissen von damals jeglichen Komfort vor.

      Apropos Komfort: Als Schiele nach seiner Ausweisung noch drei Mal zu Kurzbesuchen nach Krumau wiederkehrt, nimmt er, inzwischen von zahlungskräftigen Abnehmern seiner Bilder bestürmt und also besser bei Kasse als im Sommer 1911, im vornehmen Hotel Zum goldenen Engel Quartier. Zu den Krumauer Verwandten seiner Mutter, die bei seiner Verächtlichmachung und Verfolgung anno 1911 kräftig mitgemischt haben, hat er jeglichen Kontakt abgebrochen. Das wird sich übrigens, was seine Mutter betrifft, auch in Wien fortsetzen: Die beiden, ohnedies in gespannter Beziehung zueinander stehend, haben einander immer weniger zu sagen. In einem Brief an Arthur Roessler schüttet Schiele sein Herz aus und beklagt voller Bitternis, »daß sie für mich nicht das geringste Verständnis besitzt und leider auch nicht viel Liebe«.

      Stifter allerwege

      Im Sommer 1857 hat der knapp zweiundfünfzigjährige Adalbert Stifter ein Erlebnis, das ihn zutiefst aufwühlt: Er sieht zum ersten Mal das Meer. Begleitet von Frau und Ziehtochter, hat er eine Reise in den Süden angetreten – zuerst zu den Verwandten in Klagenfurt, dann weiter nach Triest. Der Anblick des fremden Elements löst in dem vielfach unglücklichen Mann, der sein Leben zu fünf Sechsteln hinter sich hat, gewaltige Erschütterungen aus:

       »Ich wußte nicht, wie mir geschah. Ich hatte eine so tiefe Empfindung, wie ich sie nie in meinem Leben gegenüber von Naturdingen gehabt hatte. Jetzt, da ich es gesehen, glaube ich, ich könnte gar nicht mehr leben, wenn ich es nicht gesehen hätte. «

      Heute hätte er es vor der Haustür. Zwar nicht das Meer, doch immerhin ein Gewässer von 44 Kilometer Länge und bis zu 12 Kilometer Breite: Es ist der 1959 fertiggestellte Moldau-Stausee, der das Land östlich des Böhmerwaldes mit Strom versorgt. Und mit Touristen.

      Der Literaturfreund, Stifters Doktrin vom »sanften Gesetz« im Sinn, braucht sich dennoch nicht zu schrecken: Nur Paddelboote und Ausflugsschiffe sind zugelassen, lautlose Autofähren ersetzen lärmreiche Brücken, und an den Ufern gehen Angler ihrem stillen Tagwerk nach oder ziehen Radfahrer vorüber. Sogar die örtlichen Fremdenverkehrsstrategen, obwohl festen Willens, die nur zweimonatige Sommersaison in Hinkunft zu verlängern, scheinen von »ihrem« Dichter gelernt zu haben und propagieren einen »sanften Tourismus«.

      Sobald man die österreichisch-tschechische Grenze bei Wullowitz und die ersten paar Straßenkilometer mit den offenbar unvermeidlichen Animierlokalen à la »Paradiso« und »Kamasutra« hinter sich hat, regieren nur noch Wasser und Wald: Baumriesen lassen ihre Fichten- und Lärchenzweige hoch über den Asphalt hängen, fliegende Händler bieten frisch gebrockte Heidelbeeren an, postmoderne Ferienbungalows wetteifern mit den schäbigen Datschas aus der kommunistischen Zeit. Dazwischen Wegkreuze, hinterm Ufergebüsch versteckte Campingplätze, einfache Proviantbuden – es könnte alles viel schlimmer sein. Den Besuch bei meiner tschechischen Übersetzerin hebe ich mir für den Rückreisetag auf; Jana Dušková lebt mit ihrer Familie in Loučovice, der letzten Ortschaft vor der Talsperre. Unbedingt noch vor Einbruch der Dunkelheit will ich Oberplan erreichen, mein vorrangiges Ziel. Hier ist am 23. Oktober 1805 der Leinenwebersohn Adalbert Stifter zur Welt gekommen, hier hat er seine Kindheit verbracht, und hierher ist er auch als erwachsener Mann wieder und wieder zurückgekehrt.

      Schon meine ersten Kontakte mit den Einheimischen belehren mich, ich könne getrost »Oberplan« sagen: Horní Planá, wie der Name der 2000-Seelen-Gemeinde heute offiziell lautet, lebt von den deutschsprachigen Touristen, und die Leute aus dem Ort, die nach 1945 die vormals zu 95 Prozent deutschen Siedler verdrängt haben, haben sich klugerweise darauf eingestellt.

      Auch mit ihrem »Lokalmatador« wissen sie umzugehen: Gleich am Ortseingang erblicke ich eine Tafel mit stilisiertem Stifter-Porträt, »Rostbraten Adalbert« lese ich auf der Speisekarte der Gastwirtschaft, die dem Stifter-Geburtshaus gegenüberliegt, und dortselbst wartet auf den Besucher eine vorzügliche Dokumentation zu Leben und Werk des Verehrten.

      Nach dem Brand von 1934 originalgetreu wiedererrichtet, birgt der behäbige zweigeschossige Bau Memorabilien wie Stifters Reisezylinder und Reisepaß, eine Staffelei erinnert an seinen Zweitberuf als Maler, und das lateinische Lehrbuch in einer der Vitrinen lenkt den Blick auf den verehrten Landschulmeister Josef Jenne, der seinem Lieblingsschüler »Bertl« nicht nur Lesen und Schreiben, Zeichnen und Singen beigebracht, sondern dem vielfach Begabten, nach elterlichem Wunsch für einen geistlichen Beruf Bestimmten den Weg zur höheren Schule gewiesen hat.

      Bei der Wiedereröffnung des Stifter-Hauses hat man übrigens auch an den berühmten Feldstein gedacht, der sich neben dem Eingang befand; hier hat der Bub, allein oder an der Seite des Großvaters, seine ersten Eindrücke von der ihn umgebenden Welt eingefangen:

      

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