Die böhmische Großmutter. Dietmar Grieser
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So oft es ihm der Terminkalender erlaubt, wiederholt Karl Kraus seine Besuche in Janowitz; zwischendurch werden Briefe, Postkarten und Telegramme gewechselt. Tritt dabei eine zu lange Pause ein, leidet er Todesangst um die verehrte Freundin: »Ich habe den gestrigen Tag mit Warten verbracht. Lauern, ob ein Telegramm in den Kasten fällt. Über zwanzigmal lief ich ins Vorzimmer, wenn ich die Klappe fallen zu hören glaubte.«
Mit zunehmender Häufigkeit gehen nun auch Verse, die die sich anbahnende Liaison zum Gegenstand haben, auf dem Postweg nach Böhmen. Sie haben Titel wie »Verwandlung« oder »Sendung«, »Zuflucht« oder auch »Mit dir vor einem Springbrunnen«. Oder – einfacher, direkter: »Sidi!« Der große Spötter Karl Kraus schlägt auf einmal völlig ungewohnte Töne an, wird zum schwärmerischen Hymniker, zum Poeten:
Nun bin ich ganz im Licht,
das milde überglänzt mein armes Haupt.
Ich habe lange nicht an Gott geglaubt.
Nun weiß ich um sein letztes Angesicht.
Wie es den Zweifel bannt!
Wie wirst du Holde klar mir ohne Rest.
Wie halt’ ich dich in deinem Himmel fest!
Wie hat die Erde deinen Wert verkannt.
Wie glänzt mir deine Pracht!
Dein Menschliches umarmt, der beten will.
Er heiligt es im Kuß. Wie ist sie still
von Sternen, deiner Nächte tiefste Nacht.
Zum Namenstag schickt er der Angebeteten einen Vers, dessen Zeilenanfänge »Sidonie« ergeben; ein andermal ist es gar ein vierundzwanzigstrophiges Gebilde, dessen Vierzeiler allesamt mit den geliebten Buchstaben S, I, D und I beginnen. Am Ende werden es an die 60 solcher Wortkunstwerke sein, mit denen Karl Kraus dem »himmlisch Wesen«, der »Unendlichen« und »Gnadenvollen« huldigt. Von den neun Bänden »Worte in Versen«, die nun nach und nach erscheinen, werden am Ende nicht weniger als sechs ihr gewidmet sein.
Unkompliziert darf man sich die Beziehung der beiden extrem empfindsamen Naturen freilich nicht vorstellen. Sidonie fühlt sich von all dem Überschwang der Gefühle bisweilen fast erdrückt; auch sind die äußeren Umstände ihres Beisammenseins auf Schloß Janowitz alles andere als ideal: Die Beziehung muß vor Sidonies Bruder Karl, der sich eine Art Vormundschaft anmaßt, verheimlicht werden. Erst wenn alle inklusive der Dienerschaft in tiefem Schlaf liegen, kann Karl Kraus ins Zimmer seiner »Braut vor Gott« schleichen, und auch, um engumschlungen durch den Park schlendern zu können, heißt es, das Dunkel der Nacht abwarten. Entschließt sich die »Heilige« und »Herrliche« zu einem Gegenbesuch in Wien, muß sie sich, um dem mißtrauischen Zwillingsbruder keinen Anlaß zum Einschreiten zu geben, plausible Gründe einfallen lassen. Keinesfalls darf sie zugeben, daß Karl Kraus sie zu seiner nächsten Vorlesung eingeladen hat.
Auch, wenn sie einmal nicht kommt, bleibt der Stammplatz in der zweiten Reihe für sie reserviert; in diesem Fall erstattet ihr der Enttäuschte brieflich Bericht über den Verlauf des Abends.
1915 nimmt Karl Kraus den Kampf gegen den mittlerweile tobenden Krieg auf: Noch während einer gemeinsamen Autoreise durch die Schweiz schreibt er die ersten Dialoge seines Dramas »Die letzten Tage der Menschheit« nieder. Auch im privaten Bereich herrscht Alarmstufe 1: Hier ist es der eifersüchtige »Konkurrent« Rainer Maria Rilke, der ihn herausfordert. Der ein Jahr Jüngere, obwohl selber kein Heiratskandidat, versucht Sidonie jede zu starke Bindung an Karl Kraus auszureden und schreckt dabei nicht einmal vor versteckten antisemitischen Anspielungen zurück, indem er sie vor jenem »letzten untilgbaren Unterschied« warnt, der ihrer beider Lebenswelten voneinander trennt.
Daß sich Sidonie Nádherny von Borutín im Sommer 1918 tatsächlich von Karl Kraus zurückzieht und im Jahr darauf den Sportarzt Graf Max von Thun Hohenstein heiratet, hat allerdings andere Gründe: Kraus’ gar zu heftiges Werben, das in der Bereitschaft gipfelt, der Angebeteten alles zu verzeihen, auch jegliche Kränkung von ihr hinzunehmen, ja nichts weiter als ihr »Hündchen« zu sein, stößt die stolze Frau ab, und so geht sie eine Ehe ein, von der sie sich zwar nichts erwartet, die sie aber immerhin von einem immer unerträglicher werdenden Druck befreit. Tatsächlich ist die Verbindung mit Graf Thun nicht von Dauer: Sidonie verläßt ihren Mann, nimmt wieder ihren Mädchennamen an und kehrt auf Schloß Janowitz zurück.
Im Sommer 1921 lebt die alte Freundschaft mit Karl Kraus wieder auf; allerdings sind es nun eher zufällige Begegnungen, die die beiden zusammenführen, und auch eine Reihe hochfliegender Reisepläne – unter anderem mit dem Ziel China! – bleiben unausgeführt. Zwar schreibt ihr Karl Kraus noch im Dezember 1921 »Es ist unmöglich, daß ich Dich aufgebe«, aber der vertraute Ton von einst ist wohl für alle Zeiten dahin. Undenkbar, daß er der Geliebten – wie noch im Kriegsjahr 1916 – von den »täglich sich mehrenden Reibungen mit dem äußeren Leben« schriebe und sie gar um die im darbenden Wien fehlenden Nahrungsmittel anbettelte:
»Seit Wochen keine Kartoffeln, an manchen Tagen auch kein Brot. Könnte man mir da nicht helfen? Wenn daran Überfluß ist, natürlich. Sonst nicht!«
Einen Herzenswunsch hält Karl Kraus allerdings weiterhin aufrecht: Er möchte, wenn eines Tages seine Zeit abgelaufen ist, in Janowitz beerdigt werden. Von einer gemeinsamen Reise durch die Schweiz hat man vor Jahren einen Bibelspruch mitgebracht: Karl Kraus entdeckte ihn in einer Gebirgskapelle, schrieb ihn ab und trug ihn ins Janowitzer Gästebuch ein. Er lautet: »Ich habe diesen Ort erwählet, daß mein Herz allzeit daselbst bleiben solle.«
Sidonie hat genau im Kopf, wie das Grab des Geliebten beschaffen sein soll: eine schlichte Steinplatte mit nichts als Namen und Jahreszahlen, mit wilden Wiesenblumen als einzigem Schmuck. Doch Bruder Karl verweigert seine Zustimmung; außerdem hat sich die Stadt Wien gemeldet und spendiert ein Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof.
Noch wenige Wochen vor seinem überraschend eintretenden Tod – Karl Kraus trug sich eben noch mit dem Gedanken, vor der nationalsozialistischen Gefahr in die Tschechoslowakei auszuweichen – treffen Sidonie und er einander zum letzten Mal: Vom 30. April bis zum 4. Mai 1936 hält sich der soeben 62 Jahre alt Gewordene in Janowitz auf. Sidonie wird darüber später in ihrem Tagebuch festhalten:
»Stunden innigster Freundschaft und reinsten Glücks, nur getrübt durch seine gesteigerte Atemnot. Wir nahmen Abschied auf der Station in Benešov, wohin ich ihn um 1 Uhr zum Prager Schnellzug gebracht hatte. Seine Stimme hörte ich zum letzten Mal in einem telephonischen Anruf von Wien am Pfingstsonntag. In derselben Woche fing die Todeskrankheit an; am Mittwoch legte er sich nieder, um nie wieder aufzustehen. Am Sonntag ließ er mir sagen, ich solle kommen, bis ihm besser sei, um ihn abzuholen. Bis zum letzten Augenblick seines klaren Denkens war es sein einziger Wunsch, nach Janowitz zu fahren. Von Dienstag an war er nicht mehr bei sich, denn starke Morphiuminjektionen mußten seine Schmerzen bannen. Am Donnerstag – es war Fronleichnam – fiel er in Bewußtlosigkeit, und Freitag früh um 4 Uhr hörte das edelste Herz zu schlagen auf. «
Sidonie Nádherny trifft am Vortag in Wien ein, sieht den Sterbenden jedoch nicht mehr. Beim Begräbnis am 12. Juni wirft sie einen Ring