Die böhmische Großmutter. Dietmar Grieser

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Die böhmische Großmutter - Dietmar Grieser

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Prelouc biege ich nach rechts ab, überquere die Brücke der an dieser Stelle schmalen Elbe und sehe schon von weitem die ersten Koppeln mit den still weidenden Tieren, die – ähnlich den Lipizzanern – schwarz auf die Welt kommen und mit zunehmendem Alter Grautöne annehmen, um schließlich im makellosesten Weiß zu glänzen: ein Bild, das nicht nur das Herz des Pferdenarren höher schlagen läßt.

      Schon der Blick auf die Pforte des im Jahr 2002 in den Rang eines Nationalen Kulturdenkmals der Republik Tschechien erhobenen Gestüts, wo ich von Lenka Gotthardová, der jungen Direktorin, freundlichst erwartet werde, bestätigt, was in allen Prospekttexten betont wird: In Kladrub ist die Zeit stehengeblieben. Das unter Maria Theresia erbaute Schlößchen samt angeschlossener Kirche erstrahlt in aufgefrischtem Kaisergelb, die über das 3000 Hektar große Areal verstreuten Farmen tragen nach wie vor Namen wie »Franzenshof« und »Josefshof«, und unter den Tafeln, die über Identität und Abstammung der einzelnen Tiere Auskunft geben, finde ich nicht nur solche mit Aufschriften wie Generale, Favory und Libanon, sondern auch einen Rudolfo, ja sogar einen »Almhirt«. In den Repräsentationsräumen hinter dem Verwaltungstrakt hängen die Porträts des Gestütsgründers Rudolf II. und Maria Theresias an den Wänden, Gemälde erinnern daran, daß auch Kaiser Franz Joseph und Sisi in Kladrub zu Gast gewesen sind.

      Ich bin in guten Händen: Zuzana, die in Prag Zoologie studiert hat und in Kladrub unter anderem für Öffentlichkeitsarbeit und Außenkontakte zuständig ist, übernimmt die Führung. Verschmitzt lächelnd überprüft sie mein Schuhwerk: Pferdeställe und Reithallen sind keine Ballsäle. Die meisten Tiere sind zur Zeit meines Besuches draußen auf ihren Weidegründen; die wenigen, die sich in ihren Boxen aufhalten, wenden sich neugierig dem Gast zu – und noch neugieriger dem Pfleger, der frisches Futter austeilt oder nach dem Brauseschlauch für die morgendliche Dusche greift. Es ist ein heißer Sommertag: Das Reinlichkeitsbad bringt zugleich Abkühlung.

      Nach der Feuersbrunst von 1757, der große Teile des Gestüts zum Opfer gefallen sind, hat Kaiser Josef II. sämtliche Einrichtungen erneuern lassen: Ich stapfe über den Strohteppich der Mutter-Kind-Halle, werfe einen Blick in die Veterinärstation, nur das Haus mit den Quartieren für die rund 120 Beschäftigten ist ein moderner Zweckbau. Die schnurgerade vom Hauptplatz wegstrebenden Alleen zu den einzelnen Höfen haben eine Länge von zweieinhalb Kilometern – eine von ihnen führt in den Nachbarort Řecany mit seiner Bahnstation: Hier wurde, wenn hoher Besuch vom Wiener Hof ins Haus stand, der Ankömmling in großem Stil mit der Kutsche eingeholt.

      Nebenbei erfahre ich alles über Tagwerk und Jahrespensum der »sanften Riesen«: Dreimal täglich werden sie gefüttert, mit vier Jahren setzt das Training ein, die »Prüfungsfächer« umfassen Sattel, Kutsche und Schwergewicht. Letzteres ist für das künftige Zugtier die wichtigste Bewährungsprobe: Durchschnittlich 90 Prozent der Kandidaten bestehen sie mit Bravour. So viel Aufwand hat natürlich seinen Preis: Mit mindestens 10 000 Euro muß der heutige Käufer rechnen, der sich für einen Kladruber interessiert. Der »Vorrat« ist ausreichend: An die 50 Fohlen sind es in der Regel, die pro Jahr zu dem Grundbestand der rund 300 ausgewachsenen Pferde hinzukommen.

      Angefangen hat das Ganze im Jahr 1579: Kaiser Rudolf II., dem altspanischen Hofzeremoniell besonders verbunden, führt aus Spanien und Italien hochwertige Pferde ein und siedelt sie in den abgelegenen Ländereien um Kladrub an, um ein Gala-Zugtier für die kaiserlichen Karossen züchten zu lassen. Die neue Rasse gedeiht so prächtig, daß es unter Leopold I. bereits 300 Mutterstuten und 30 Beschäler sind, die sich in dem ostböhmischen Hofgestüt tummeln. Für Wien wird eine Reserve von 16 Rappen und 16 Schimmeln »abgezweigt«, und das bedeutet bei Wagenpferden: 16 Paare, die in punkto Größe und Gestalt, Bewegung und Geschwindigkeit, Temperament und Charakter perfekt zueinanderpassen müssen. »In Anbetracht des harten Wiener Granitpflasters«, lese ich in einem 1890 erschienenen Leitfaden zur Aufzucht der Kladruber Rasse, sind »knochenstarke Beine und feste Hufe« eine wichtige Voraussetzung. Und weiter: »Wagenpferde müssen sicher und vollkommen in Gehorsam sein, ruhig stehen und besonders beim Stadtdienste leicht und gut wenden.«

      Am Wiener Hof legt man auch diesbezüglich größten Wert auf würdevolles Gebaren – im Gegensatz zum forschen Preußen, wo Kaiser Wilhelm es vorzieht, mit seinen Orloff-Trabern im Eilschritt nach Potsdam zu sausen. »Kaiser Franz Joseph hingegen«, so drückt es einer der früheren Gestütsleiter von Kladrub aus, »ließ die Pferde gemächlich und pompös agieren, damit das Volk, wenn es ihnen vom Straßenrand aus zuschaute, ja vielleicht stundenlang auf ihr Erscheinen gewartet hatte, das erhabene Schauspiel in aller Ruhe genießen konnte.«

      Nichts bleibt in Kladrub dem Zufall überlassen; die 1890 im nahen Pardubitz veröffentlichte »Instruktion zur Belehrung der Chargen und Stationsleiter in den k.k. Staats-Hengsten-Depots« schreibt bis ins kleinste Detail »Stallordnung, Wartung und Pflege« vor. Greifen wir ein Beispiel heraus, das Tränken:

       »Zum Tränken der Hengste ist frisches Brunnenwasser zu verwenden, doch dürfen die Tiere niemals im erhitzten Zustande getränkt werden. Ist das Wasser sehr kalt, so ist es dadurch zu mildern, daß es eine Stunde vor dem Verabreichen im Tränkgefäße im Stalle stehengelassen wird. Auch ist, um das gierige Saufen zu verhindern, eine Handvoll Heu auf das Wasser zu legen. «

      Noch strenger die Regeln in Sachen Fortpflanzung:

       »Das Belegen der Stuten darf erst beginnen, wenn die Hengste vom Ausreiten zurückgekehrt, gut abgeputzt und ausgeruht sind. Eine halbe Stunde vor dem Mittagsfutter ist mit dem Belegen zu endigen. Des Nachmittags dürfen nur solche Hengste zum Belegen verwendet werden, die entweder bei einfachen Sprüngen des Vormittags nicht gedeckt haben oder denen zwei Sprünge des Tages erlaubt sind.«

      Wie geht es nach dem Zusammenbruch der Monarchie mit dem vormaligen k.k. Hofgestüt weiter? Mehr schlecht als recht: Die edlen Tiere kämpfen um ihr Überleben, mit nur je 16 Stuten und zwei Beschälern beider Farbschläge, also Schimmel und Rappen, wird mühsam versucht, den Zuchtbetrieb aufrechtzuerhalten. Ein Fanatiker, der es auf die radikale Ausmerzung aller »österreichischen Überbleibsel« abgesehen hat, läßt sich dazu hinreißen, die beiden Schimmelhengste zu vergiften.

      Das Desaster ist vollkommen, als man zwischen 1924 und 1929 dem Ruf der heimischen Bauern nach kräftigen Ackergäulen nachzukommen versucht und schwere Oldenburger nach Kladrub holt. Erst 1941 kann mit der Regenerierung der Rappen begonnen werden; auch gelingt es trotz der deutschen Besatzung, die Tiere von der Front fernzuhalten.

      Neue Gefahr für die Erhaltung der Kladruber droht nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Kommunisten die Macht im Land übernehmen: Aus dem Gestüt wird ein landwirtschaftlicher Großbetrieb, der vor allem die Rinder- und Schweinezucht forciert. Immerhin gelingt es den verantwortungsbewußten Männern an der Spitze des Unternehmens, die zuständigen staatlichen Instanzen davon zu überzeugen, daß es zu den nationalen Pflichten gehört, die »einzige bodenständige Pferderasse« zu erhalten, und so muß man, als sich mit der Wende von 1989 ein neuer Aufschwung für Kladrub abzeichnet, nicht gerade bei null anfangen.

      Heute erlebt der Besucher das Národni hřebčin als gutfunktionierenden Staatsbetrieb, der unter keinen Umständen privatisiert werden darf; das Landwirtschaftsministerium der Republik Tschechien, dem er unterstellt ist, hat ihn zum nationalen Kulturdenkmal erklärt, zur »Gen-Reserve« in Sachen Pferdezucht. Geht eines der zum Verkauf freigegebenen Tiere ins Ausland, müssen zwei Ministerien in Prag ihre Zustimmung erteilen. »Es ist fast so wie bei der Veräußerung eines kostbaren alten Gemäldes aus einem der großen Museen«, sagt einer der internationalen Experten, der es wissen muß, und er fügt hinzu: »Das Altkladruber Pferd von heute unterscheidet sich in nichts von seinem Vorgänger aus dem 16. Jahrhundert, wie man ihn auf den historischen Darstellungen abgebildet findet.«

      Zwar machen die Kladruber auch als Reit- und Dressurpferde Furore, doch ihre eigentliche Stärke ist und bleibt das Gespann. Der Besucher, der nicht das Glück hat, einem der großen Turniere beiwohnen zu können, die mehrmals im Jahr an Ort und Stelle stattfinden, kann

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