Die böhmische Großmutter. Dietmar Grieser
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Mit der bedrückenden Stille, die über dem Ort liegt, ist es erst sechs Jahre später vorbei, nur ist das, was sich nun rund um Sidonie ereignet, noch um vieles schlimmer: Die SS fällt ein und verwandelt das Schloß in eine Kaserne samt Panzerreparaturwerkstatt für den nahe Benešov errichteten Truppenübungsplatz der Deutschen Wehrmacht. Dem Wahnsinn nahe, irrt die Achtundfünfzigjährige durch die wenigen ihr verbliebenen Räume; am 27. Dezember 1943 trägt sie in ihr Tagebuch ein: »Es wäre besser, zu sterben.« Nicht nur, daß es weder Strom noch Telephon noch Radio gibt, wird nun auch noch die Zufahrtstraße für jeglichen Zivilverkehr gesperrt: Sidonie von Nádherny ist total von der Außenwelt abgeschnitten.
Nach dem Einmarsch der Russen im Mai 1945 erhält sie zwar ihren Besitz zurück, doch in welchem Zustand! »Mein Herz blutet, wenn ich durch den verwilderten Park gehe. Alles preisgegeben, was sonst wie ein Heiligtum war.«
Wenigstens ist ihre Bibliothek gerettet: Alles – inklusive der »Fackel«-Bände – wartet, in Kisten verpackt, darauf, wiederaufgestellt zu werden. Im Augenblick sind allerdings andere Arbeiten vordringlicher: Um sich zu ernähren, pflanzt Sidonie im Schloßgarten Gemüse; einen eigenen Gärtner gibt es schon lange nicht mehr. Eine alte Gießkanne muß herhalten: »Gartenspritze und Wasserleitung wurden von den Deutschen zerstört.«
Das endgültige Aus kommt mit der Machtübernahme durch die tschechischen Kommunisten: Bei Nacht und Nebel und nur mit leichtem Gepäck (darunter das Widmungsexemplar der »Ausgewählten Gedichte« von Karl Kraus) verläßt Sidonie Nádherny am 11. September 1949 Janowitz (das nunmehr Janovice heißt), schlägt sich zu Fuß zur nächsten Bahnstation durch, flieht über die grüne Grenze nach Deutschland und reist nach England weiter. Freunde in London nehmen sich ihrer an, auch bei Bekannten in Südirland findet sie vorübergehend Unterschlupf. Ein inzwischen ausgebrochenes Krebsleiden veranlaßt sie, nach London zurückzukehren, und dort, im Harefield Hospital in der Grafschaft Middlesex, stirbt die Vierundsechzigjährige am 30. September 1950 und wird auf dem Dorffriedhof von Denham beerdigt. Fast ein halbes Jahrhundert verstreicht, bis die sterblichen Überreste – im Mai 1999 – nach Böhmen überführt und endgültig im Park von Schloß Janovice beigesetzt werden. In jenem Boden, von dem Karl Kraus in seinem Gedicht »Wiese im Park« gesagt hat: »Und dieses war mein Land.«
Die sanften Riesen
Donnerstag, 30. November 1916. Österreich trägt den vorletzten Monarchen seiner Geschichte zu Grabe. Vor neun Tagen ist der Sechsundachtzigjährige in seinem Nachtgemach im Schloß Schönbrunn sanft entschlafen; nun geben die Spitzen seines Reiches, Delegationen aus aller Herren Ländern und nicht zuletzt sein Volk Kaiser Franz Joseph I. das letzte Geleit.
Seit den späten Vormittagsstunden ist halb Wien auf den Beinen: Man will sich einen günstigen Aussichtspunkt sichern, wenn nach 14 Uhr der Trauerkondukt durch die Straßen der Innenstadt zieht. Es ist eine Zeremonie von unüberbietbarer Erhabenheit, von einzigartiger Dimension. Leiblakaien tragen den Sarg mit dem Leichnam über die Botschafterstiege zur nahen Hofburgkapelle, wo die Einsegnung erfolgt; dann führt der Weg in den Schweizerhof, wo der riesige schwarzlackierte Leichenwagen bereitsteht. 1876/77 hat die k.k. Hofsattlerei das prunkvolle Gefährt hergestellt, dessen Baldachin mit Krone und Adlern verziert ist. Nur drei Mal ist es bis jetzt benützt worden: bei den Beisetzungen von Kaiserinwitwe Maria Anna, Kronprinz Rudolf und Kaiserin Elisabeth.
Unter dem feierlichen Geläut sämtlicher Kirchenglocken der Stadt wird der Sarg auf den Leichenwagen gehoben, das Gespann aus acht schwarzgeschirrten Rappen setzt sich in Bewegung, um den langen Weg über Inneren Burghof, Heldenplatz, Ringstraße, Schwarzenbergplatz, Aspernplatz, Quai und Rotenturmstraße zur Stephanskirche zurückzulegen, wo Kardinal Piffl eine zweite Einsegnung vornimmt. Dann das letzte Stück Strecke in Richtung Kapuzinerkirche: Kärntnerstraße, Kupferschmiedgasse, Neuer Markt. Vor dem schwarzverhängten Portal hält der Zug an, der Sarg wird vom Leichenwagen gehoben, Pater Guardian und der gesamte Kapuzinerkonvent geben dem Verstorbenen das Geleit zu dem im Inneren der Kirche errichteten Katafalk, Sänger der Hofmusikkapelle intonieren das »Libera«.
Vor der Pforte zur Gruft dann das berühmte Ritual: Der Obersthofmeister klopft mit umflortem Stab an das verriegelte Tor und verlangt Einlaß.
»Wer ist da?« fragt Pater Guardian.
»Seine Majestät, der Allerdurchlauchtigste Kaiser Franz Joseph.«
»Ignosco, den kenne ich nicht.«
»Der Kaiser von Österreich und Apostolische König von Ungarn.« Wieder die gleiche Antwort: »Ignosco, den kenne ich nicht.«
Ein drittes Mal ertönt das Klopfen an die unverändert verschlossene Pforte.
»Wer verlangt Einlaß?«
»Ein sündiger Mensch, unser Bruder Franz Joseph.«
Nun endlich geht das Tor auf, ehrerbietig nehmen die Kapuzinermönche den Leichnam in ihre Obhut. Kaiser Karl und Kaiserin Zita, die den Trauerkondukt angeführt haben, verlassen die Kirche und begeben sich zurück in die Hofburg; auch die vieltausendköpfige Trauergemeinde und die die Straßen und Plätze ringsum bevölkernde Menschenmenge lösen sich auf, der über mehrere Stunden eingestellte Straßenbahn- und Stellwagenverkehr nimmt seinen Betrieb wieder auf. Der Leichenwagen mit seinem grandiosen Achtergespann aus schwarzgeschirrten Rappen rollt zurück in die Hofburg.
Es ist das vorletzte Mal, daß er in Funktion getreten ist; nur am 1. April 1989, über 72 Jahre später, wird der kaiserliche Leichenwagen ein allerletztes Mal aus der Remise geholt werden: wenn Kaiserin Zita in der Kapuzinergruft beigesetzt wird. Seitdem ist er außer Dienst gestellt, das republikanische Österreich bedarf seiner nicht mehr, als Museumsstück bildet er eine der Attraktionen der Wagenburg von Schönbrunn.
Es ist deren Kustoden hoch anzurechnen, daß sie bei der Auswahl ihrer Exponate nicht verabsäumt haben, auch jener »Mitwirkenden« des habsburgischen Pompe funèbre zu gedenken, ohne deren Einsatz der kaiserliche Leichenwagen keinen einzigen Schritt von der Stelle gekommen wäre: der Pferde, die ihn unter den bewundernden Blicken der Wiener in prunkvollem Achtergespann durch die Straßen der Stadt gezogen haben.
Ich spreche von dem 1853 im Auftrag des Hofes angefertigten Ölgemälde, das an einer der Wände der Wagenburg prangt und den Blick freigibt auf das k.k. Hofgestüt von Kladrub, wo seit den Tagen Kaiser Rudolfs II., also seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, die Zugpferde für die Karossen der Habsburger gezüchtet werden: die Schimmel- und Rappenhengste der bei den Trauerkondukten eingesetzten Achterzüge und die hellbraunen Halbblüter für die Ausfahrten der übrigen Hofwagen. Daß die Kladruber schon damals – und erst recht heute – im Schatten der berühmteren Lipizzaner stehen, ist eine der vielen Ungerechtigkeiten dieser Welt; nehmen wir das im Jahr 2004 begangene 425-Jahr-Jubiläum des Gestüts von Kladrub zum Anlaß, den »sanften Riesen« aus Ostböhmen, wie man die edlen Tiere immer wieder genannt hat, unsere Reverenz zu erweisen.
Schon Pardubitz, wo ich auf dem Weg nach Kladrub Zwischenstation mache, ist ein Mekka der Pferdefreunde: Die 100 000 Einwohner zählende Hauptstadt Ostböhmens, gut 200 Kilometer nördlich von Wien und 75 Kilometer östlich von Prag, ist berühmt für ihr alljährlich veranstaltetes Steeplechase, das als das älteste und schwierigste Hindernisrennen auf dem Kontinent gilt. Mich aber zieht es an die »Quelle«: Ich will den Ort kennenlernen, aus dem die Pferde für die königlichen Gespanne kommen, den Ort, wo sie geboren, aufgezogen und trainiert werden – zuletzt hat man sie im Frühjahr 2004 im Fernsehen bewundern können, als sie das dänische Kronprinzenpaar anläßlich seiner Vermählung