Die Enkel der Tante Jolesch. Georg Markus
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Worauf dieser antwortete: »Sofort Berufung einlegen!«
Mit seinem Aufstieg zum berühmtesten Advokaten des Landes stieg auch das Vermögen des alten Stern, das er sehr geschickt in Immobilien anzulegen verstand. Seine Villen in Grinzing und Zinshäuser in der Wiener Innenstadt führten dazu, dass man im Landesgericht für Strafsachen schon in den sechziger Jahren munkelte: »Wenn der alte Stern stirbt, trägt das Grundbuch Trauerflor.«
Er aber dachte lange nicht ans Sterben. Michael Stern wurde 92 Jahre alt. Der Tod ereilte ihn im Dezember 1989 – eben dort, wo er es sich gewünscht hatte: in seiner Kanzlei auf der Wiener Seilerstätte, in der er jeden Tag ab vier Uhr früh anzutreffen und bis zur letzten Stunde seines Lebens tätig war.
Als er hoch in den Achtzigern stand, schlief er schon mal während einer Verhandlung ein, wachte aber stets dann auf, wenn es darum ging, seinen Mandanten mit einem brillanten Plädoyer vor der sicher scheinenden Verurteilung zu bewahren. Zur Höchstform gelangte der als »Wunderrabbi des Gerichtssaals« bezeichnete Dr. Stern stets in der Schlussphase seiner Verteidigungsreden, wenn er die Geschworenen in eindringlichen Worten aufforderte, dem Angeklagten zu einem Freispruch zu verhelfen, da dieser garantiert schuldlos sei. Dies müsste man einem alten Anwalt glauben, dessen nächster Prozess sicher schon vor dem Jüngsten Gericht stattfinden würde, da er bereits mit einem Fuß im Grab stünde.
In diesem »stand« er gut zwanzig Jahre, und ebenso lang zog die Masche, die selbst geeichte Kiebitze zu Tränen zwang.
Auch in einem Terroristenprozess wies der damals 85-jährige Staranwalt wieder einmal auf sein demnächst zu erwartendes Ableben hin, um dann noch mit einem Blick zu seinem »erst« achtzigjährigen Kollegen Dr. Obendorfer – der einen Komplizen seines Mandanten vertrat – anzufügen: »Ich, meine Damen und Herren Geschworenen, bin nicht hier, um mein Honorar zu verdienen, wie dies bei meinem jungen Kollegen Dr. Obendorfer der Fall sein mag.«
Der neben ihm auf der Verteidigerbank sitzende »Jüngling« erstarrte derweilen zur Salzsäule.
Auf die Tränendrüse drückte der alte Stern auch im Fall einer der Abtreibung verdächtigten Hebamme. Obwohl viele Indizien gegen die »Engelmacherin« sprachen, gelang es dem Strafverteidiger mit dem ihm eigenen Geschick, einen Freispruch zu erwirken. Leider erklärte die Frau dem Richter zum Entsetzen ihres Advokaten nach der Urteilsverkündung:
»Vielen Dank, Herr Rat! Und ich werd’s auch bestimmt nimmer mehr machen!«
Die eben noch von den Kiebitzen im Gerichtssaal vergossenen Tränen wichen allgemeinen Heiterkeitsausbrüchen.
In Juristenkreisen hieß es mit Hinweis auf die Privilegien, die Dr. Stern beim Besuch von Strafgefangenen im »Grauen Haus« genoss, dass in Österreich vielleicht alle Bürger, nicht aber alle Anwälte vor dem Gesetz gleich wären. Die Bevorzugung des Staranwalts bestand auch außerhalb der Gerichtsmauern, etwa im Feinkostgeschäft Meinl am Graben, das – wenn der berühmte Strafverteidiger einkaufen wollte – seinetwegen schon um sechs Uhr früh aufgesperrt wurde.
Um ein Privileg ganz anderer Art bemühte sich der gewiefte Jurist, als er eines Morgens den nicht minder legendären Burgtheaterdirektor Ernst Haeusserman anrief.
Haeusserman, der damals Max Reinhardts traditionell ausverkaufte »Jedermann«-Inszenierung für die Salzburger Festspiele betreute, war Nachtmensch und infolgedessen Langschläfer. Keiner hätte es je gewagt, ihn vor zehn Uhr vormittag zu belästigen. Nur einer: der Morgenmensch Dr. Michael Stern, den man schon in seiner Kanzlei antreffen konnte, wenn Haeusserman noch durchs Wiener Nachtleben streunte.
Dennoch läutete eines sehr frühen Sommermorgens das Telefon in der Wiener Wohnung des Theaterprinzipals. Haeusserman wankte schlaftrunken zum Apparat. Es war knapp nach fünf Uhr früh!
Das Burgtheater musste brennen, anders war eine Störung zu dieser Stunde nicht erklärbar.
Doch der Grund des Anrufes war ein ganz anderer. »Hier spricht Dr. Stern«, verkündete die verdächtig munter klingende Stimme am anderen Ende der Leitung. Haeusserman ließ sich in einen nahen Fauteuil fallen und lauschte im Halbschlaf den brillant gesetzten Worten des Strafverteidigers.
»Mein lieber Hofrat Haeusserman«, hob der alte Stern an, »ich lasse gerade mein Leben Revue passieren. Und da fällt mir ein, dass wir uns jetzt schon seit so vielen Jahren kennen. Da hab ich mir gedacht, es wär doch nett, wir würden uns du sagen.«
Haeusserman war gerührt, fühlte sich geehrt – nur eines konnte er sich beim besten Willen nicht erklären: Warum, um alles in der Welt, musste die Verbrüderung ausgerechnet am Telefon erfolgen.
Und vor allem: zu dieser Stunde!
Wie auch immer, sie riefen einander »Servus, Ernstl« und »Servus, Michael« zu, und als Haeusserman endlich den Hörer auflegen wollte, um die gestörte Nachtruhe wieder aufnehmen zu können, fügte der alte Stern schnell an:
»Ach ja, lieber Ernstl! Weil wir grade so nett miteinander plaudern, hätt ich eine Frage an dich: Hast du noch zwei Karten für den ›Jedermann‹ am nächsten Sonntag?«
Ich lernte Dr. Stern in den siebziger Jahren kennen, als ich eine Zeit lang für den »Kurier« als Gerichtssaalreporter tätig war. Journalisten gegenüber war der alte Stern ausnehmend höflich und entgegenkommend, und natürlich immer darauf bedacht, dass »seine« Prozesse in den Medien den entsprechenden Niederschlag fanden (was dank seiner Prominenz auch meist der Fall war). Aus diesem Grund lud er mich das eine oder andere Mal zum Frühstück in seine Kanzlei ein, die eher einem Kontor aus einem Nestroystück denn einem Büro des 20. Jahrhunderts glich.
Für die Mitarbeiter der Kanzlei Stern war in jenen Tagen die elektrische Schreibmaschine noch nicht erfunden, und wer die Installierung eines Computers vorgeschlagen hätte, wäre vom Chef für verrückt erklärt worden. Der als geizig bekannte Dr. Stern hechelte ständig von einem Büroraum zum anderen, um darauf zu achten, dass sämtliche Lichter abgedreht würden. Ebenso war er darauf erpicht, Papier zu sparen. »Das Kanzleipapier«, lautete einer seiner unverrückbaren Grundsätze, »schneide ich immer in der Mitte durch, weil unten sowieso nichts steht.«
Knausrig war er auch, was das Salär seiner Angestellten betraf. Dabei kam ihm entgegen, dass es jungen Juristen zur Ehre gereichte, beim alten Stern als Konzipienten tätig zu sein, wobei tatsächlich viele seiner ehemaligen Mitarbeiter später berühmte Anwälte wurden, wie etwa der beim alten Stern in die »Lehre« gegangene Strafverteidiger Dr. Herbert Eichenseder.
Dieser war längst ein selbstständiger, überaus erfolgreicher Advokat, als eine Zeitung aus Anlass von Sterns achtzigstem Geburtstag ein Porträt über die Anwaltslegende veröffentlichte. In einem Nebensatz zwar, aber durchaus der Realität entsprechend, erzählte Eichenseder einem Reporter des Blattes, dass ihm sein früherer Chef seit Jahren einen Teil seines letzten Urlaubsgeldes in Höhe von 6783,- Schilling schuldig geblieben sei.
Nach Erscheinen des Berichts rief Dr. Stern seinen ehemaligen Konzipienten an, um ihm mitzuteilen, dass er die Sache selbstverständlich sofort zu bereinigen wünschte. Die beiden trafen einander im Verteidigerzimmer des Wiener Landesgerichts, in dem Eichenseder endlich den seit Jahren offenen Betrag zu erhalten dachte. Der alte Stern freilich ging auf ihn zu, nahm den bedeutend jüngeren Kollegen an der Hand und sagte:
»So, jetzt sind wir per du, und damit ist