Lotte mischt mit. Klaus Heimann
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Ich unternahm den nächsten Versuch, das Hinterrad aus seiner Halterung zu befreien. Leider dosierte ich dabei den Krafteinsatz so wie bei den vorausgegangenen, vergeblichen Versuchen. Das völlig lockere Rad sauste aus den Fallenden heraus, die Antriebskette rasselte vom Zahnkranz der Schaltung herunter. Ich spürte einen kurzen Widerstand. Knack. Das dünne Drahtseil der Schaltung hatte meinem Rucken nachgegeben. Es war kurz vor seinem Ende abgerissen. Leider hatte ich vergessen, es vor dem Ausbau des Hinterrads zu lösen.
Ich fluchte gottlästerlich. Das würde ein Spezialist in Ordnung bringen müssen. Hier war ich mit meinem Latein definitiv am Ende.
Unter diesen Umständen machte das Flicken des Schlauchs keinen Sinn mehr. Ich ersparte mir weitere Versuche. Unter Aufbringung letzter Geduldreserven befestigte ich das Hinterrad wieder an Ort und Stelle. Dann setzte ich mich bedröppelt neben dem Fahrrad in den Straßenstaub. Ein Häufchen Elend.
Was für eine Blamage Lotte gegenüber!
Meiner Gattin beliebte es, länger als die angekündigte halbe Stunde auszubleiben. Nun war es an mir, ungeduldig zu werden. Endlich erspähte ich sie, die Straße entlang auf mich zuschlendernd. Ohne jede Eile. Ich blieb aus Protest einfach sitzen.
Als Lotte endlich bei mir angekommen war, wich die Entspannung aus ihren Zügen.
»Wie siehst du denn aus? Sogar im Gesicht hast du dich beferkelt. Warte, ich richte dich wieder her, damit ich mich mit dir in der Öffentlichkeit zeigen kann.«
Meine Angetraute zupfte ein Papiertaschentuch aus ihrer Windjacke hervor, bespuckte es und wischte mir damit über die Stirn. Das hatte zuletzt meine Mutter getan. Genauso kam ich mir vor: Wie ein dreckiges Kind. Eine sinnfällige Geste für meine Schmach. Mein Mut war mittlerweile so weit in sich zusammengesunken, dass ich die Prozedur demütig und widerspruchslos über mich ergehen ließ.
Endlich schien Lotte ein Ende mit ihrer Wischerei zu finden.
»Können wir jetzt weiterfahren?«, fragte sie, während sie meine Schläfe abtupfte.
»Nein«, gab ich kleinlaut zu. »Du wirst schieben müssen.«
Unter normalen Umständen hätte ich jetzt etwas zu hören gekriegt. Ehe jedoch neues Gezeter über mein blamiertes Haupt ausgegossen wurde, rettete mich ein scharfer Knall. Dann sofort noch einer. Lotte zuckte derart zusammen, dass sie mit ihrem Taschentuch abrutschte und mir damit über Nase und Kinn fuhr.
»Was war das denn?«
Auch ich hatte mich erschreckt, wenn auch nicht so heftig wie meine Angetraute.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen: Schüsse!« Irgendwie empfand ich ein wenig Dankbarkeit für denjenigen, der geschossen hatte.
»Schüsse?« In Lottes Augen breitete sich Panik aus. »Habe ich dir noch gar nicht erzählt. Da vorne bei den Palästen direkt am Ufer ist so eine merkwürdige Gestalt herumgeschlichen. Ganz in schwarz gekleidet. Kapuze auf – bei dem Wetter! Die hat bei einer der dicksten Villen angeklingelt.«
»Und? Hat jemand geöffnet?«
»Ja. Ziemlich schnell sogar.«
»Wurde die Gestalt reingelassen?«
»Ohne Zögern.«
»Dann ist ja alles in Butter.«
»Mir war das jedenfalls unheimlich. Ich habe gemacht, dass ich fortkam. Und jetzt diese Schüsse …«
Ich erhob mich aus dem Straßenstaub. Wir waren im Urlaub. Gingen mich potenzielle Schüsse etwas an?
Es hatte nicht nach einem Gewehr geklungen. Ein Jäger war es nicht gewesen. Meine Schnüffler-Stirn legte sich in Falten – das spürte ich deutlich. Bei mir immer ein untrügliches Zeichen dafür, dass Verbrechen in der Luft liegen. Gräueltaten, die aufgeklärt werden wollen.
Natürlich gingen Schüsse einen Sigi Siebert etwas an. Egal wo, egal in welcher Situation. Darauf war ich einfach gepolt.
Doppelmord
Ich gab Lotte ein Zeichen, mir zu folgen. »Komm, Lotte. Wir sehen nach, was da los ist.«
»Meinst du?« So zaghaft hatte ihre Stimme vorhin beim Start meines Flickversuches nicht geklungen.
Wir packten unsere Fahrräder bei den Lenkern und schoben sie neben uns her. Die Richtung, in der das Haus liegen musste, bei dem Lotte die schwarze Gestalt gesehen hatte, stimmte nach meiner Einschätzung mit der Richtung, aus der die Knallgeräusche gekommen waren, überein.
Als wir die Straße »Am Ufer« erreichten, sahen wir schon, wie sich ein kleiner Menschenauflauf formierte.
Wo kamen diese Figuren so plötzlich her? Vor einer Stunde hatte der Ort noch den Eindruck gemacht, als wäre er völlig verwaist.
»Mein Gott. Die gehen genau zu dem Haus, wo dieses schwarze Ungetüm geklingelt hat. Sigi, das wird mir immer unheimlicher.«
»Ich bin ja bei dir«, versuchte ich meine Beste zu beruhigen. In Momenten wie diesen gelingt mir das gelegentlich sogar.
Wir erreichten die Villa, vor der sich drei Männer und fünf Frauen versammelt hatten. Aufgeregt schwatzten sie durcheinander. Ich drängelte zwischen ihnen hindurch aufs Haus zu.
»Sie sind nicht aus Wildpark West. Was tun Sie hier?«, fragte mich ein älterer Herr mit Vollglatze wichtigtuerisch.
Lotte nahm mich vor ihm in Schutz. »Mein Mann ist bei der Kripo!«
Ein wenig Stolz klang mit, der mein aufgewühltes Bastlerherz erwärmte. Allerdings hätte ich mich auch selbst zu erkennen geben können.
Stattdessen spulte ich meine Routine ab. »Sind Sie hergekommen, weil Sie Schüsse aus diesem Haus gehört haben?«
Wieder schob sich der Glatzkopf vor. »Genau deshalb. Zwei, um genau zu sein.«
»Hat irgendjemand einen schwarz gekleideten Verdächtigen aus diesem Haus herauskommen sehen?«
Murmeln machte sich breit. Kopfschütteln.
Ich hakte nach: »Also niemand?«
Keine Antwort, ratlose Gesten.
»Sie sollten sich nicht allzu sicher fühlen, so wie Sie hier herumstehen. Ich empfehle Ihnen, zurück in Ihre Wohnungen zu gehen, Fenster und Türen zu verriegeln und vorerst nur Besuchern zu öffnen, die Sie kennen. Es ist schon vorgekommen, dass jemand in Situationen wie diesen zur Geisel wurde«, deutete ich an, um den Platz zu räumen. Zu Anordnungen war ich hier natürlich nicht befugt.
»Hört auf den Mann«, rief der Wichtigtuerische in die Runde, um einen Rest seiner ziemlich schnell zusammengedampften Autorität zu retten. Damit löste er eine spontane Fluchtwelle aus. Das Trüppchen stob auseinander. Nur Lotte blieb bei mir. »Du bitte auch! Und verständige die Kollegen, wenn dein Abstand groß genug ist!«