Eisernes Verderben. Franziska Franz

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Eisernes Verderben - Franziska Franz

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an welchen Kollegen ich sie verweisen konnte, denn wir kamen keinen Schritt weiter. Andererseits wünschte ich mir von Herzen, ihr helfen zu können, sah ich doch, wie sehr sie unter ihrer Unruhe litt.

      „So antworten Sie doch, Doktor Falkenberg, ich habe Sie das jetzt zum dritten Mal gefragt!“

      Nur sehr langsam kehrte ich in die Gegenwart zurück. Ich hatte völlig abgeschaltet.

      „Bitte entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht verstanden.“

      „Ich fragte, ob auch Sie ein Mann sind, vor dem ich mich ängstigen muss, so wie ich vor allen Männern Angst habe. Und ich frage mich, ob auch Sie mir wehtun könnten. Sie haben manchmal so einen sonderbaren Blick, ähm, verzeihen Sie bitte, aber das verunsichert mich.“ Sie hob entschuldigend die Arme. „Sie sagten doch, ich dürfe alles sagen, was ich denke.“

      „Aber natürlich dürfen Sie das. Ich möchte Sie gewiss nicht einengen, Frau Melchior. Da befinden wir uns bereits am entscheidenden Punkt. Ich möchte, dass Sie sich öffnen. Dazu gehört, dass ich Ihnen zuhöre. Es steht mir nicht zu, Gefühle zu zeigen oder zu äußern. Aber lassen Sie ruhig Ihre Ängste heraus. Um auf Ihre Frage zu antworten: Natürlich könnte ich Ihnen wehtun, so wie jeder Mensch anderen Menschen wehtun kann, nur mit dem Unterschied, dass ich es gar nicht will und es natürlich auch nicht tun werde. Was hätte ich denn davon? Ich bin Ihr Therapeut und möchte Ihnen helfen. Dafür bezahlen Sie mich ja schließlich. Sie müssen mir vertrauen, andernfalls kann ich wenig für Sie tun, und ich würde Sie dann zu Ihrem eigenen Besten an einen anderen Therapeuten verweisen.“

      „Gut. Ich denke, ich habe das missverständlich ausgedrückt.“ Sie entspannte sich ein wenig. „Es ist ja nur, man liest und hört immer so viel. Wissen Sie, man wird ja erst hellhörig, wenn ein Verbrechen in der Stadt geschieht, in der man selber wohnt. Da gab es doch in diesem Frühjahr einen unaufgeklärten Mord in den Niddawiesen. Und na ja, wenn man nun einmal nicht genau weiß, mit welchem oder mit wie vielen Tätern man es zu tun hat, dann kann man es schon mit der Angst zu tun bekommen, denn es könnte ja schließlich jeder sein.“ Sie lachte verlegen. „Mag sein, dass ich zu viele Krimis lese. Man sagt doch, dass es meistens die Menschen sind, denen man es am wenigsten zutrauen würde, und dann, ja dann …“, sie machte eine bedächtige Pause. „Dann, Doktor Falkenberg, kämen selbst Sie infrage.“

      Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. „In den meisten Fällen sorge ich ja wohl dafür, dass meine Patienten lernen, sich in ihrer Haut wieder wohlzufühlen und das Leben als lebenswert zu erachten. Aber natürlich haben Sie recht. Den meisten Verbrechern sieht man es gewiss nicht an der Nasenspitze an. Einem Verbrechen zum Opfer zu fallen, ist allerdings nicht gerade sehr wahrscheinlich, Frau Melchior, und wenn man nicht im entsprechenden Milieu verkehrt, nahezu ausgeschlossen. Da werden Sie eher Opfer eines Verkehrsunfalls oder Sie brechen sich beim Treppensturz das Genick – was Gott verhindern möge.“

      „Ich frage mich oft, ob ich wohl schon mal einem Verbrecher begegnet bin, Herr Doktor. Ja, darüber denke ich wirklich sehr oft nach, und wenn ich ehrlich bin, frage ich mich nicht, ob, sondern eher wie vielen. Womöglich auf dem Anlagenring, da treibt sich ja allerhand dubioses Volk herum.“ Sie wandte den Kopf in meine Richtung, ohne mich anzusehen, und sprach sehr leise. „Ich bin mir sogar sicher, dass schon mal einer hinter mir her war, Herr Doktor.“ Ihr Blick blieb an dem Fenster an der gegenüberliegenden Wand haften. „Es war dieser … dieser schreckliche Geruch, ein schmuddeliger Mann, er lief eine ganze Weile hinter mir her, er roch nach Schweiß und Zigaretten, derselbe Geruch wie damals.“ Sie schwieg eine Weile, bevor sie fortfuhr. „Die Angst kroch eiskalt an meinen Beinen hoch und ich fürchtete, nicht weiterlaufen zu können. Meine Beine waren auf einmal schwer wie Blei. Doch dann kam uns zum Glück ein Fahrradfahrer entgegen und ich nahm mir ein Herz, hielt ihn an und fragte ihn nach dem Weg. Mein Verfolger ging weiter und verschwand aus meinem Blickfeld.“

      Ich war hellhörig geworden – „damals“, das war das erste Mal, dass sie ansetzte, um von ihrer Vergangenheit zu sprechen. Da musste ich nachhaken. „Frau Melchior, Sie sagten, ‚derselbe Geruch wie damals‘, was meinten Sie damit?“

      Sie begann zu zittern. „Darf ich, ich meine, wäre es möglich, dass Sie mir einen Schluck Wasser bringen?“ Ihre Stimme klang belegt, als sie sich aufrichtete.

      „Aber natürlich, sofort.“ Ich holte ein Glas und eine Flasche Wasser aus der Teeküche, schenkte ein und reichte ihr das Glas. „Immer mit der Ruhe, Frau Melchior, lassen Sie sich Zeit, entspannen Sie sich. Hier wird Ihnen nichts geschehen. Für Sie wird es befreiend sein, über Dinge zu sprechen, die Sie verletzt haben, Sie werden sehen.“

      Sie trank in hastigen Zügen, stellte das leere Glas auf den flachen Tisch vor der Couch und wischte ihre feuchten Hände an ihrer Hose ab. Dabei blieb sie aufrecht sitzen. Unruhig sah sie sich im Raum um, als suche sie einen geeigneten Punkt, auf dem sie ihren Blick ruhen lassen konnte. Schließlich sagte sie: „Als ich klein war, wohnte ich mit meinen Eltern in der Rhönstraße, also im Ostend. Ich durfte von dort aus allein zum Spielplatz in der Nähe laufen. Nachmittags holte mich mein Vater immer ab, wenn er von der Baustelle kam. Er war Kranfahrer. Ich schämte mich dafür, denn er roch stark nach Schweiß und nach Zigaretten, er war Kettenraucher. Nie hatte er ein nettes Wort für die anderen Kinder übrig und erst recht nicht für mich. Ja, ich schämte mich so sehr. Jedes Mal ging es ihm nicht schnell genug, dass ich mit ihm kam. Ich hatte solche Angst vor diesem Moment. Regelmäßig bestand er auf einem Umweg über den Röderbergweg. Ich musste vor ihm herlaufen, trotzdem konnte ich ihn riechen, und das machte mir entsetzliche Angst. Weiter unten am Röderbergweg, da gab es dichte Hecken und Gebüsche. Er sagte dann, dass ich mich dort erleichtern sollte, ich dürfe nie einhalten, davon werde ich krank. Er sah mir jedes Mal dabei zu, es war furchtbar.“ Sie fing an zu weinen.

      „Hat er …“

      Sie hob die Hand. „Ich möchte nicht mehr darüber reden, ich schaffe das einfach nicht.“

      Ich reichte ihr ein Taschentuch und wartete, bis sie sich einigermaßen gefasst hatte. „Es ist, wie gesagt, gut und wichtig, dass Sie aussprechen, was Sie bewegt. Darf ich fragen, ob Ihr Vater noch lebt?“

      Sie schüttelte den Kopf. „Er starb vor ein paar Jahren an Lungenkrebs.“

      „Er wird Ihnen also nie wieder etwas zuleide tun, Frau Melchior, nie! Er hat seine Strafe bekommen, auch wenn mir nicht zusteht, das zu sagen, denn ich weiß nicht, was er noch getan hat. Ich kann jedoch verstehen, was das mit Ihnen gemacht hat. Sie müssen nun lernen, sich Ihren Ängsten zu stellen, Sie sind eine erwachsene Frau: Richten Sie sich körperlich auf, laufen Sie selbstbewusst durchs Leben, Sie sind viel stärker, als Sie glauben, vertrauen Sie mir.“ Endlich hatte ich einen Ansatzpunkt. Endlich konnte ich ihr helfen. Ich streckte mich. „Allein anhand der Körperhaltung kann man einen Menschen einschätzen. Wenn Sie sich klein machen, gar ängstliche Blicke um sich werfen, dann bringen Sie die Menschen erst auf dumme Gedanken. Verhalten Sie sich jedoch selbstbewusst und wirken Sie stark, wird man Sie nicht belästigen. Glauben Sie mir, Körpersprache macht eine Menge aus. Deswegen sind besonders junge Mädchen leider oftmals Opfer. Oft sind sie noch nicht ausreichend gefestigt. Frau Melchior, es ist momentan doch schon recht lange hell. Ich würde Ihnen gerne etwas verordnen, nämlich dass Sie nachmittags, wann immer Sie Zeit haben, über den Anlagenring laufen, oder von mir aus gehen Sie zum Hauptbahnhof, jedenfalls an irgendeinen Ort, der Ihnen nicht recht geheuer ist. Um diese Tageszeit sind dort so viele Menschen unterwegs, dass Ihnen nichts passieren kann. Setzen Sie sich gegen Ihre Ängste durch, damit diese in Ihrem Leben nicht zunehmend mehr Raum einnehmen. Sie werden sehen, bis zu unserem nächsten Treffen …“ Ich stand auf, lief zu meinem Schreibtisch und schaute auf meinen Kalender. „Also, unser nächstes Treffen ist am kommenden Mittwoch – nämlich morgen in einer Woche. Bis zu unserem nächsten Treffen werden Sie deutlich weniger Angst davor haben, über den Anlagenring zu laufen oder am Hauptbahnhof zu parken oder wo immer Sie sich sonst aufhalten

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