Die Todesstrafe II. Jacques Derrida

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Die Todesstrafe II - Jacques Derrida страница 4

Die Todesstrafe II - Jacques  Derrida Passagen forum

Скачать книгу

um die Frage des Gebots „Du sollst nicht töten!“ herum gelesen, gefolgt von den von Gott dekretierten „Rechtsordnungen“, die die Todesstrafe für diejenigen vorschreiben, die gegen dieses oder jenes Gebot verstoßen. Ich werde die Analysen, die wir all diesen Texten (von Beccaria über Kant, Hugo, Genet und einige andere bis zu Camus), modernen Rechtstexten oder internationalen Erklärungen seit dem letzten Weltkrieg, sowie der Entwicklung der Lage der Todesstrafe in den USA gewidmet haben (insbesondere mittels Zeitungslektüre, wobei die USA heute die einzige sogenannte westliche Demokratie europäisch-jüdisch-christlicher Kultur sind, die in massivem und zunehmendem Maße eine Todesstrafe aufrechterhält, deren legale Anwendung eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zumindest zwischen 1972 und 1977 aufgehoben hatte) [ich werde all diese Analysen] natürlich nicht noch einmal wiedergeben, genauso wenig wie die allgemeine Einführung einer Problematik der Souveränität um zwei Begriffe herum, die uns durchgehend als Leitfaden gedient hatten:

      1.) Die Ausnahme (ein rätselhafter Begriff, der im Zentrum sowohl der Texte von Carl Schmitt über die Souveränität als auch zahlreicher Texte der Moderne zum Recht und insbesondere zum internationalen Recht steht, die wir untersuchten, und die zwar die Folter und grausame Behandlungen verurteilen, aber mit Ausnahmen, und die Ausnahme verweist immer auf die Todesstrafe. Was ist eine Ausnahme? Und was ist die Souveränität? Das waren die Fragen des letzten Jahres, und sie waren um folgende Frage herum miteinander verknüpft: Wer entscheidet souverän darüber, was die Ausnahme ist? Im Grunde genommen, in einer Monarchie: Wer herrscht und hält mit dem Begnadigungsrecht das Recht über Leben und legalen Tod in Händen? Und in einer Demokratie: Wer präsidiert und wer hält mit dem Begnadigungsrecht das Recht über Leben und legalen Tod in Händen?)5.

      2.) Die Grausamkeit, ein sehr dunkler Begriff, der überaus dogmatisch gebraucht wird. Wir haben seine Verallgemeinerung (ohne Grenze und Ende, sondern nur eine interne qualitative Differenzierung) in den Texten von Nietzsche untersucht, die im Übrigen einen gewissen Freud ankündigen, über den wir ebenfalls gesprochen haben, um den Sadismus herum (und als wir beim Lacan von „Kant und Sade“ die Filiation zu Sade erwähnten, und den zweideutigen Blanchot von „Die Literatur und das Recht auf den Tod“ in Bezug auf den Terror6 der Revolution), einen gewissen Freud also, zu dem ich, eine andere Gangart einschlagend, zurückkommen möchte, vielleicht heute noch; und dann jene Grausamkeit, auf die so viele Texte des Verfassungsrechts, des nationalen wie des internationalen Rechts auf so dunkle und dogmatische Weise Bezug nehmen, seit dem achten Zusatzartikel der Bill of Rights der amerikanischen Verfassung, der „cruel and unusual punishments“ verbietet (jenem Zusatzartikel, den der Oberste Gerichtshof 1972 heranzog, um die Anwendung der Todesstrafe zu verbieten, eine Situation, die nur vier oder fünf Jahre Bestand haben sollte, zwischen dem berühmten Fall Furman gegen Georgia im Jahre 1972, der die Gelegenheit bot, zu entscheiden, dass die Anwendung der Todesstrafe verfassungswidrig sei, und dem nicht weniger berühmten Fall Gregg gegen Georgia, der im Jahre 1976 die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten faktisch wiederherstellen wird, nachdem der Oberste Gerichtshof des Bundes diesem Urteil des Staates Georgia gefolgt war)7. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) hatte ebenfalls „Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Bestrafungen“ verboten, ohne dass dies irgendeine wirksame Gesetzeskraft besessen hätte, ohne dass die Souveränität der Nationalstaaten dadurch in die Pflicht genommen worden wäre, und vor allem ohne dass die Todesstrafe als solche verurteilt worden wäre (aus eben jenem Grund, nicht in die souveräne Entscheidung der Staaten einzugreifen, denen die Entscheidung über die Ausnahme überlassen bleiben müsse). Was ist Grausamkeit? Wie diese Frage mit der doppelten Frage nach der Souveränität und der Ausnahme und also der souveränen Entscheidung darüber verknüpfen, was die Ausnahme ist, was grausam ist und was nicht?

      Nach dieser Erinnerung, die gerade einmal die Aderung [nervure] eines Phantoms, das Nervensystem eines Gespensts nachzeichnet, nämlich die verknotete Einheit, den Knoten, den Syllogismus, das System oder, falls Sie das vorziehen, die Synapse oder die Syntax dieser dreifachen Frage: Ausnahme, Souveränität, Grausamkeit, nach dieser Erinnerung also wollen wir beginnen, wollen wir von Neuem beginnen und zur Erkundung einer anderen problematischen Einheit aufbrechen, der anderen Dreierfigur eines Knotens aus Fragen:

      Was ist ein Akt?

      Was ist ein Alter?

      Was ist ein Begehren?

      Mit diesen drei Fragen werde ich beginnen. Ich werde sie langsam aussprechen und in der Schwebe lassen. Ich formuliere sie nur, um den Ton anzugeben, so als würde ich, bevor ich zu spielen beginne, ein Instrument zu stimmen versuchen. Oder, mit einer anderen Figur: als würden wir am Faden jenes Käfers beziehungsweise Artefakts ziehen, das mit dem Übernamen cerf-volant [wörtl. „Fliegender-Hirsch“, als Tier „Hirschkäfer“, als Artefakt „Flugdrachen“; A.d.Ü.] versehen wurde, und auf dessen Tuch oder Flügeln wir von weitem, oder von unten, einer noch unlesbaren Inschrift gewahr würden. Von welchem cerf-volant werden wir sprechen? Wie soll man, in seinem französischen Signifikanten, das Wort, die Silben cerf-volant [„fliegender-Hirsch“], cerveau-lent [„langsames-Hirn“] vernehmen? Wer hat hier das langsame Hirn in dieser Tragödie der sogenannten Kapitalstrafe8? Drei Fragen also auf den Flügeln dieses Flugdrachens/Hirschkäfers:

      Was ist ein Akt?

      Was ist ein Alter?

      Was ist ein Begehren?

      Diese drei Fragen auf „Was ist?“, in der Schwebe gelassen auf den Flügeln, oder am Schwanz, oder am Kopf eines Flugdrachens/Hirschkäfers [cerf-volant], haben etwas mit, sagen wir, „meinem Tod“ zu tun, genauer gesagt mit dem, was man mit dem Übernamen „gegebener Moment“ des Todes versehen könnte – ich meine den gegebenen Moment von mein Tod, des „mein Tod“ von jedermann, jedem Mann und jeder Frau, dessen, was jeder Mann und jede Frau wollen und sagen wollen kann, wenn er oder sie „mein Tod“ sagt, im „gegebenen Moment“ von mein-Tod. Nicht nur der Moment des Den-Tod-Gebens, auch nicht der gewollte Moment9 des Todes, sondern ein gegebener Moment meines Todes, genauer: der besagte und noch in der Schwebe gelassene Ort/Anlass10 dieses gegebenen Moments.

      Wenn es etwas gibt, das nicht zu wissen und also in seiner absoluten Präzision zu berechnen gegeben ist, dann ist das der gegebene Moment meines Todes. Außer vielleicht im Falle der Todesstrafe, die im Prinzip impliziert, dass man ihn kennt, dass der Andere ihn kennt und manchmal auch ich ihn kenne, auf die Sekunde genau, auf kalkulierbare Weise, den Moment, den Moment von „mein Tod“. Bei einem Mord oder einem Suizid kann ich behaupten, die Sekunde des gegebenen Todes entsprechend der objektiven Zeit der Uhr zu berechnen. Wo der Tod jedoch vom Anderen zu mir kommt, ist die Todesstrafe die einzige Erfahrung, die es im Prinzip gestattet, dass der gegebene Moment des Todes ein gewollter und öffentlich datierter Moment ist.

      1. Die erste dieser drei Fragen („Was ist ein Akt11?“) klingt wie eine große, geradezu alterslose Frage, eine Frage der großen ontologischen Tradition. Was ist ein Akt, im Sinne von Handeln [action] (mit allem, was man ihm entgegensetzen kann: Erleiden [passion] – actio/passio –, die Theorie oder das Denken, die Spekulation, die Sprache, Handeln anstelle von Theoretisieren, Denken, Spekulieren, ja sogar Sprechen, usw.), aber auch was ist ein Akt in dem Sinne, in dem der Akt als ernergeia verstanden wird (das „in actu“ ihres lateinischen Pseudo-Äquivalents, ihrer problematischen Übersetzung mit actus, da, wo man ihr in aller Seelenruhe die dynamis entgegenzusetzen glaubt, das Vermögen12, ja sogar die Materie, die possibilitas, die Virtualität, usw.)? Ein riesiges Problem, das nicht nur den Unterschied zwischen Handelndem [agent] und Erleidendem [patient], Akt und Erleiden, Akt und Vermögen oder Möglichem, Form und Stoff betrifft, insbesondere und in herausragender Weise im Diskurs des Aristoteles, mit seiner ganzen Filiation (sie ist enorm), sondern zugleich auch all das, was wir hier seit Jahren um ein Denken des Möglichen und des Unmöglichen herum überlegen

Скачать книгу