Roger Federer. Simon Graf

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Roger Federer - Simon Graf Porträt

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Puls der Tenniswelt spüren möchte, sollte sich einmal während der «All England Championships» im Juli mit dem Zelt in den Wimbledon Park begeben, um da zu übernachten und sich Tickets zu sichern. Und dann mit den Zeltnachbarn über Federer plaudern, um die Wartezeit zu überbrücken. Schnell merkt man: Nicht jeder, der eine Schweizer Flagge am Zelt befestigt hat, ein T-Shirt mit Schweizerkreuz oder eine

      Baseballkappe mit dem «RF»-Logo trägt, ist Schweizer. Die Federer-Aficionados kommen aus Kalkutta, Shanghai, Melbourne, Dubai, Tennessee, natürlich auch aus Basel und London, aus allen Ecken dieser Welt. Jeder kann erzählen, wann es bei ihm «Klick» gemacht hat. Es gibt wohl keinen Sportler, der bei seinen Anhängern ein solch ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis entfacht wie er. Über den so viele Bücher geschrieben wurden, in denen die Autoren darüber sinnieren, was der Tennisvirtuose bei ihnen ausgelöst hat.

      Und gilt Sport in der Kulturszene sonst eher als uncool, zieht Federer auch da viele in seinen Bann. Die deutsche Stargeigerin Anne-Sophie Mutter etwa sagte 2017 im Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung»: «Ich kann gar nicht verstehen, wie man Fan von einem anderen lebenden Tennisspieler sein kann, wenn man Federer gesehen hat. Man muss doch dieser Ästhetik, dieser Eleganz, dieser ganz wunder­baren poetischen Spielweise einfach verfallen.» Sie erzählte, sie habe 2014 ihre Konzerte in Australien so gelegt, damit sie Federer im Endspiel der Australian Open in Melbourne hätte zuschauen können. Dummerweise scheiterte er im Halbfinale an Nadal.

      So global der Appeal des fünffachen Weltsportlers ist, er trägt ausgeprägte Schweizer Züge. Bei Studien über Swissness stoße man immer wieder auf Attribute, die Federer charakterisieren würden, sagt Torsten Tomczak, Marketingprofessor an der renommierten Universität St. Gallen. Federer steht für Werte der modernen, aber auch der tra­ditionellen Schweiz: Er ist weltoffen, aber geerdet, fleißig, kreativ, zielstrebig, familienorientiert, freundlich, aber hart in der Sache, zuverlässig und angemessen bescheiden geblieben. Er kultiviert nicht gerade das Understatement wie sein Rivale Rafael Nadal, überschreitet aber auch nie die Grenze zwischen Selbstbewusstsein und Überheblichkeit. Und wie die Schweiz ist er neutral. Federer ist der perfekte Diplomat, exponiert sich in der Öffentlichkeit nie in heiklen Fragen. Das ist in einer Zeit, in der die Journalisten mehr denn je auf der Suche nach der reißerischen Schlagzeile sind und diese über die sozialen Medien tausendfach verbreitet wird, eine kluge Strategie.

      Wahrscheinlich gibt es keinen Sportler, der so oft interviewt worden ist wie Federer. Allein nach seinen Matches hatte er schon über 1500 Pressekonferenzen zu absolvieren. Wer so oft im Fokus steht, kann sich nicht verstellen. Zumindest nicht dauerhaft. Dass er als Person kohärent ist, unterstrich eine Umfrage des amerikanischen «Reputation Institute» aus dem Jahr 2011. Dabei wurden 54 weltweit bekannte Persönlichkeiten aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Sport von über 50 000 Befragten danach bewertet, wie beliebt, respektiert und glaubwürdig sie seien. Der Schweizer landete auf Rang 2, nur hinter dem inzwischen verstorbenen Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela, aber vor Persönlichkeiten wie dem Dalai Lama, Barack Obama oder Bill Gates. Seit November 2017 darf sich Federer auch Ehrendoktor nennen, die Medizinische Fakultät der Universität Basel verlieh ihm diesen Titel. Dafür, dass er weltweit den guten Ruf von Basel und der Schweiz fördere, mit seinem Auftreten als Sportler ein Vorbild sei und sich mit seiner Stiftung für Kinder im südlichen Afrika einsetze.

      Zum Verblüffendsten zählt, dass ihn seine Konkurrenten so schätzen, obschon er sie fast immer schlägt. Von 2004 bis 2017 erhielt er dreizehn Mal den Stefan-­Edberg-Award als fairster und integerster Spieler – gewählt von den Berufskollegen. Nur 2010 konnte ihm Nadal diese Auszeichnung abjagen. Der alljährliche Award ist auch als Dank der anderen Tenniscracks an Federer zu verstehen – dafür, dass er das Klima auf der Profitour nachhaltig verändert hat. Pflegten sich frühere Nummern 1 wie Pete Sampras oder Andre Agassi rar zu machen und die Konkurrenzsituation anzustacheln, mischt sich Federer stets unter die anderen – egal, wie alt oder jung, wie gut oder schlecht sie sind. Was auch auf seine Schweizer Prägung zurückzuführen sein dürfte. Obschon er immer wieder als (Tennis-)König bezeichnet wird, ist er einer aus dem Volk – in der Garderobe oder in der Player’s Lounge bleibt er einer der Jungs, ohne Berührungsängste und immer zu haben für einen Spaß. Mit seiner unkomplizierten Art hat er die Atmosphäre auf der Männertour entkrampft. «Ich fand immer, es sei das Beste, nett zu sein zu den neuen Generationen von Spielern, statt ihnen das Gefühl zu geben, hier sei es für sie die Hölle», sagte Federer einmal. «Ich denke, das färbte auf Nadal und die anderen Spieler ab. Natürlich ist Tennis ein harter Sport, aber es ist immer noch ein Sport. Es gibt viele Dinge, die wichtiger sind im Leben.»

      Sein netter, menschlicher Umgang heißt aber nicht, dass er es allen recht machen will. Stets hat er konsequent seinen Weg verfolgt und harte Entscheidungen getroffen, wenn er sie für nötig hielt. Wie die Trennung von mehreren Coaches, den Verzicht auf Davis-Cup-Einsätze oder die komplette Sand­saison. Und auf dem Platz kennt er ohnehin kein Mitgefühl. Einer, der sportlich am meisten unter ihm gelitten hat, ist Andy Roddick. Achtmal trafen sie bei Grand Slams aufeinander, achtmal siegte Federer – viermal davon im Finale. Nach dem Wimbledon-Endspiel 2005 brachte es Roddick auf den Punkt, als er in Richtung Federer sagte: «Ich würde dich liebend gerne hassen. Aber du bist einfach zu nett.»

      2. Der Apfel fällt (nicht) weit

      vom Stamm

      Eine spontane Begegnung sagt zuweilen mehr aus über einen Menschen als eine wortreiche Charakterisierung. Dazu passt eine Episode mit Lynette Federer, der Mutter von Roger, erzählt vom früheren Doppelspezialisten Eric Butorac. Der Amerikaner, von 2014 bis 2016 Präsident des Spielerrats und damit Nachfolger des Schweizers, war als Spieler keine große Nummer. Erst recht noch nicht 2006, als er vorwiegend bei den Doppelkonkurrenzen der zweitklassigen Challenger-Tour herumtingelte. Im Oktober jenes Jahres macht er auch Station bei den Basler Swiss Indoors und nimmt seinen Coach mit. Nicht weil er sich in Basel große Chancen ausrechnet, sondern weil er Roger Federer einmal live spielen sehen möchte. Nachdem Butorac in Runde 2 ausgeschieden ist, eilt er zusammen mit seinem Coach in die Hauptarena, wo der Lokalmatador gegen David Ferrer spielt. Sie kommen mit ihren Spielerbadges zwar ins Stadion, doch auf den Rängen gibt es keine freien Plätze mehr. Eine Platzanweiserin schlägt ihnen vor, ihr Glück in den Sponsorenboxen zu versuchen. Da würden immer ein paar Stühle frei bleiben. Und tatsächlich: Sie erspähen zwei freie Plätze in einer Loge in der ersten Reihe und schleichen sich nach drei Games rein. Die anderen vier Leute in der Sechserbox scheinen nichts dagegen zu haben, die «ältere Frau», wie sie Butorac in seinem Blog bezeichnet, ist sogar extrem gastfreundlich. «Sie löcherte mich gleich mit Fragen über meine Tenniskarriere. Woher ich komme. Welchen Schläger ich benutze. Was mein Ranking sei. Und vieles mehr.»

      Nach drei, vier Games des Gesprächs möchte sich Butorac endlich aufs Spiel konzentrieren. Schließlich ist er wegen Federer gekommen. Doch da er als Gast in einer Sponsorenbox sitzt, sieht er sich verpflichtet, selber noch etwas Konversation zu betreiben, ehe er sich guten Gewissens dem Wesentlichen zuwenden kann. Also fragt er die ältere Frau: «Ihre Firma ist Sponsor des Turniers?» Sie gibt zurück: «Das ist keine Sponsorenloge. Das ist eine private Loge.» Butorac ist verwirrt. «Eine private Loge?» Sie erklärt: «Ich bin Rogers Mutter. Das sind sein Vater, seine Schwester, sein Manager.» Dem Doppelspieler ist es unendlich peinlich, sich auf diese exklusiven Plätze geschlichen zu haben. Doch Lynette Federer plaudert weiter munter auf ihn ein. «Kennst du Roger? Seid ihr Freunde?» Auch Vater Robert mischt sich ins Gespräch, doch der verlegene Eindringling ist auf einmal ganz schüchtern und wortkarg. Er kann es kaum erwarten, dass das Spiel vorbei ist, so unangenehm ist ihm die Situation. «Es war Federers längster Zweisatzsieg, den ich je erlebt habe.» Er fühlt sich wie ein kleines Kind, das Süßigkeiten gestohlen hat. Nach dem Match stürmt er aus der Halle, um nicht auch noch Federer persönlich zu begegnen. Jener Abend bleibt ihm in Erinnerung. Obschon er ein Wildfremder war, wurde er in der Federer-Loge behandelt wie ein alter Bekannter.

      Zwei Jahre später bei den US Open, als er gerade im gemischten Doppel verloren hat und seine Sachen packt, fragt ihn Federers damaliger Coach José Higueras, ob er schon abreise.

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