Roger Federer. Simon Graf
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Der 6. Juli 2003 wird ein Tag für die Schweizer Sportgeschichte. Der «Harry Potter des Tennis» («Times») schwingt seinen Zauberstab, der ganze Spuk dauert weniger als zwei Stunden. Als es geschafft ist, das 7:6, 6:2, 7:6 feststeht, sinkt Federer auf die Knie und schaut hoch in seine Box zu Freundin Mirka Vavrinec und Coach Lundgren. Hat er während des Spiels Nerven und Gegner stets im Griff gehabt, überwältigen ihn nun die Emotionen. Als er auf seinem Stuhl auf die Pokalübergabe wartet und langsam realisiert, was er geschafft hat, weint er ein erstes Mal. Die goldene Trophäe in den Händen, die er behutsam hält wie ein Neugeborenes, kämpft er sich tapfer durchs Siegerinterview. Seine Worte und Gedanken schweifen wild umher, er schwankt zwischen Übermut und Rührung. Als er im Überschwang sagt, er schaue sich selber auch gerne zu, muss er über sich schmunzeln. Schließlich bricht er wieder in Tränen aus, und mit ihm viele im Stadion und vor den Fernsehbildschirmen.
Der große Durchbruch: Roger Federer küsst nach dem Wimbledon-Sieg 2003 behutsam den glitzernden Pokal.
«It’s Roger Blubberer», titelt die Londoner Boulevardzeitung «Daily Mirror» tags darauf unbarmherzig – Roger, der Flenner. Der «Daily Record» aus Glasgow spöttelt: «Die Platzhelfer waren sich im Moment des Tränenmeeres unschlüssig, ob sie die Regenplane über den heiligen Rasen ziehen sollten.» Die seriöseren Zeitungen setzen nach dem Triumph des Schweizers zu kunstvollen Elogen an. So schreibt der erfahrene Tennisjournalist John Parsons im «Daily Telegraph»: «Nimm das eiskalte Wimbledon-Temperament von Björn Borg, addiere das elegante Flugballspiel von Stefan Edberg, mische es mit der Autorität des Aufschlags von Pete Sampras und den Returnqualitäten von Andre Agassi, und du hast eine Ahnung vom neuen Wimbledon-Champion Roger Federer. Er könnte ein Gigant unter Champions werden.» Die Pariser Sportzeitung «L ’Equipe», die sich Wochen zuvor noch über ihn ausgelassen hatte, schwärmt: «Mit einem außergewöhnlichen Talent gesegnet sowie einer Persönlichkeit von einer Einfachheit, die erfrischt, ist er der ideale Botschafter des schönen Spiels. In diesen turbulenten Zeiten ist der Erfolg dieses Artisten und vorbildlichen Jungen die schönste Neuigkeit für das Männertennis. Sampras kann in Ruhe zurücktreten, sein Erbe ist in
guten Händen.» Es sind prophetische Zeilen.
Nach dem Champion’s Dinner im noblen Fünfsternehotel Savoy und einer kurzen Nacht empfängt Federer die Journalisten Montagfrüh im Garten seines Mietshauses zum Interview. An der Lake Road 10, drei Autominuten entfernt vom «All England Club». Er posiert, die Zeitungen mit den Schlagzeilen über ihn auf einem Tisch ausgelegt, und wirkt erstaunlich frisch.
Unmittelbar nach dem Finale habe er sich aber alles andere als frisch gefühlt, sagt er. «Nach der Siegerzeremonie kam ich in die Garderobe und war völlig ausgelaugt. Die Muskeln waren vom Druck so angespannt.» Dann redet er so abgeklärt wie einer, der viel älter ist als seine 21 Jahre: «Die Gewinner bleiben, die Verlierer gehen. Gewinner und Verlierer sind so nahe beieinander und doch so weit voneinander entfernt. Wahre Champions macht aus, dass sie gewinnen. Das mag jetzt ein bisschen arrogant klingen, da ich gerade Wimbledon gewonnen habe. Aber es ist einfach so. Ich ließ mir die Chance nicht nehmen.»
Und er erklärt, wieso seine Reifung zum Champion etwas länger dauerte: «Für mich war entscheidend, dass ich mich selber finden konnte. Dass ich mich innerlich wohl fühlte. Ich bin der Typ, der Spieler, der Mensch, der da durchmusste. Ein Hewitt oder ein Safin waren schon früher mental stärker. Bei mir hat es seine Zeit gebraucht.» Dass für ihn als Wimbledon-Sieger nun ein neues Leben als Berühmtheit beginne, sei ihm bewusst. Aber das sei okay für ihn. «Mein Sternzeichen ist Löwe, wie bei Pete Sampras. Wir stehen gerne im Mittelpunkt. Ich bin so entspannt, damit umgehen zu können. Und zum Glück sind die Paparazzi in der Schweiz nicht so schlimm wie in England.»
Noch am gleichen Tag geht es für ihn mit dem Privatjet ins Berner Oberland, nach Gstaad. Ein Sandturnier auf 1050 Metern Höhe ist wohl so ziemlich das Letzte, was sein erschöpfter Körper gebrauchen kann. Doch Federer will Jacques «Köbi» Hermenjat nicht enttäuschen – schließlich hat ihm der Turnierdirektor 1998 als 16-Jährigem mit einer Wildcard den ersten Auftritt bei einem Profiturnier ermöglicht. Hermenjat überrascht den frischgebackenen Champion am Dienstag mit einem üppigen Geschenk: einer 800 Kilo schweren Simmentaler Milchkuh namens Juliette. Das Bild des ungleichen Duos geht um die Welt.
Die Kuh als Belohnung für Federer passt zur Lobeshymne, welche die Londoner «Times» nach seinem Triumph auf ihn und die Schweiz verfasst hat. Eine augenzwinkernde Tour d’Horizon, die sich aller Klischees bedient, auch Bezug nimmt auf Ballonfahrer Bertrand Piccard und den Coup der Schweizer Segelyacht Alinghi beim America’s Cup: «Blast die Alphörner und lasst alle Kuckucksuhren singen. Jodelt die gute Nachricht von Gipfel zu Gipfel und brecht die Toblerone. Roger Federers Sieg in Wimbledon hat bewiesen, dass die Schweiz ein Land von sportlichen Helden ist, ein Land, wo Giganten von den Bergwiesen ausziehen, um die Meere segeln, den Globus im Ballon umrunden und sich gebückt zu gräsernem Tennisruhm siegen. Die Jungen und Mädchen, die bob- und slalomfahrend Siege in winterlichen Sportarten eroberten, sind inzwischen weit entfernt von den verschneiten Horizonten ihres eingeschlossenen Landes.»
4. Der Hitzkopf entdeckt sein Zen
Tennis ist ein einfacher Sport. Es sei denn, man spielt selber. Denn das Frustrationspotenzial ist beträchtlich. Ständig muss man innerhalb von Sekundenbruchteilen Entscheidungen fällen und improvisieren. Immer wieder geht etwas schief. Und zwischen den Ballwechseln und Games hat man reichlich Zeit, darüber nachzudenken, was man hätte anders machen sollen. Wer Perfektion anstrebt wie der junge Roger Federer, muss zwangsläufig an seinen Ansprüchen scheitern. Ärger kommt hoch und muss irgendwie raus. Glücklicherweise hat man als Tennisspieler stets einen Schläger in der Hand, an dem man seinen Frust auslassen kann.
Legendär ist die Story, wie Federer als Teenager in der nationalen Tennisakademie in Biel den Vorhang durchlöchert, der eben erst angeschafft wurde und die Plätze trennt. «Er war so dick, dass ich dachte: Es ist unmöglich, ihn zu zerstören», erzählt der reuige Täter in der TV-Dokumentation «Replay». «Doch zehn Minuten später schleuderte ich mein Racket, es drehte in der Luft wie der Rotor eines Helikopters und durchschnitt den Vorhang wie ein Messer die Butter. Alle hörten auf zu spielen und schauten mich an. Ich dachte: Das ist doch nicht möglich!» Er packt seine Sachen und geht – er wäre ohnehin rausgeschmissen worden. Vor Beschädigungen des neuen Vorhangs war ausdrücklich gewarnt worden. Zur Strafe muss er eine Woche lang zwischen sechs und sieben Uhr morgens die Toiletten reinigen, Büros staubsaugen, die Plätze präparieren. Für ihn, der alles andere als ein Frühaufsteher ist und noch Jahre davon entfernt, als Familienvater den Ernst des Lebens kennenzulernen, ist das die Höchststrafe.
Schon der Exiltscheche Adolf «Seppli» Kacovsky, sein erster Coach, hat mit dem überschäumenden Temperament des jungen Baselbieters zu kämpfen. Und Journalist René Stauffer, ein Federer-Kenner erster Stunde, erinnert sich in seiner Biografie «Das Tennisgenie», welch bleibenden Eindruck der hochbegabte Junior bei ihm hinterließ, als er ihn erstmals sah – beim World Youth Cup in Zürich mit 15 Jahren. Nicht nur Federers Talent stach ihm sofort ins Auge, sondern auch, wie wild und unkontrolliert er sich zwischen den Ballwechseln aufführte: «Sein Schläger saß ihm locker in der Hand, immer wieder flog er über den Platz. Dazu sprach Federer fast ununterbrochen mit sich selbst, oder besser: Er beschimpfte sich. ‹Duubel!›,
Idiot, rief er in breitem Basler Dialekt, als einer seiner Bälle die Linie knapp verfehlte. Er kritisierte sich manchmal sogar, wenn er den Punkt gewonnen hatte, aber mit seiner Schlagausführung nicht zufrieden war. Was um ihn herum geschah, schien er nicht wahrzunehmen.»
Seinen Eltern ist dies oft peinlich. «Wir waren nie böse auf Roger, weil er ein Match verlor», sagt Mutter Lynette. «Aber oft wegen seines Verhaltens auf dem Platz.» 2016 erzählt Federer eine Geschichte aus jungen Tagen, als Vater Robert frustriert über Rogers