Roger Federer. Simon Graf

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Roger Federer - Simon Graf Porträt

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und verabschiedete sich mit den Worten: ‹Ich gehe, wir sehen uns dann zu Hause.› Ich konnte nicht glauben, dass er mich alleine zurücklassen würde. Denn es dauerte mit dem Bus 45 Minuten bis nach Hause. Ich wartete eine Stunde, dass er zurückkommen würde. Aber er tauchte nicht mehr auf. Als ich zum Parkplatz ging und sah, dass unser Auto weg war, realisierte ich, dass er wirklich verschwunden war.» Bei anderer Gelegenheit stoppte Robert auf dem Heimweg von einem Juniorenturnier das Auto auf einer Passhöhe. Sein Sohn ärgerte sich immer noch über sein Spiel, als ihn der Vater aus dem Wagen zog und seinen Kopf in den Schnee steckte – um sein hitziges Gemüt zu kühlen.

      Mutter Lynette pflegt zu Roger zu sagen: «Dein schlechtes Verhalten ist eine Einladung für deinen Gegner. Du bedeutest ihm damit: Heute bin ich schlagbar.» Doch all diese Lektionen und Worte verfehlen zunächst ihre Wirkung. Auch in seinen ersten Jahren auf der Profitour sorgen Federers Wutausbrüche für Aufsehen. Im Achtelfinale von Roland Garros 2000 etwa, das er gegen den favorisierten Spanier Alex Corretja in drei Sätzen verliert, schleudert er seinen Schläger in kürzester Zeit viermal durch die Gegend. Natürlich gibt es davon einen Youtube-Zusammenschnitt. In Rom 2001 gegen Marat Safin, dem ebenfalls kein Mangel an Temperament nachgesagt werden kann, überbieten sich er und der Russe im Traktieren des Arbeitsgeräts. Nach dem zweiten Satz werden auf der Großleinwand einige Szenen eingespielt. Federer schaut kurz hoch und sieht, dass nicht die gelungenen Bälle, sondern die Gefühls­ausbrüche der beiden Hitzköpfe gezeigt werden. «Man sah, wie er sich ärgerte, ich mich ärgerte. Er, ich, er, ich, er, ich», sagt er in «Jubeljahre», dem Buch über die Schweizer Erfolgsgeschichte im Tennis. Federer fährt fort: «Ich war peinlich berührt. Ich dachte: Das muss wirklich nicht sein. Je größer die Bühne wurde, desto mehr wurde ich mir bewusst, wie wichtig Respekt und Anstand sind. Gewisse Erfahrungen muss man einfach machen.»

      Von 17 bis 19 nimmt er die Dienste des Basler Sportpsychologen Christian Marcolli in Anspruch. Obgleich Federer zu jener Zeit noch oft aufbrausend und unkontrolliert ist, bemerkt Marcolli schon damals, dass der Tennisstar in spe auch im mentalen Bereich ein Naturtalent ist. Zum einen wegen seiner Leidenschaft für diesen Sport: Weil ihm Niederlagen so nahegehen, bekommt er den Ansporn, alles zu tun, um sie künftig zu vermeiden. Zum anderen wegen seiner Lernfähigkeit: Es sei verblüffend gewesen, wie schnell er neue Informationen habe verarbeiten und umsetzen können, sagt Marcolli. Federer äußerte sich nie im Detail über die Zusammenarbeit mit dem Sportpsychologen, 2009 streift er sie in einer Pressekonferenz beim Turnier von Monte Carlo. «Es ging damals primär um Aggressionsbewältigung», sagt er. Es ist das einzige Mal in seiner Karriere, dass er einen Psychologen beizieht: «Ich realisierte ziemlich schnell, dass es an mir lag. Dass ich niemanden mehr brauchte, der mir sagt, wie ich mich zu verhalten hätte. Meine Eltern und meine Freunde hatten es mir ja schon oft gesagt. Es war einfach an mir zu beschließen, wann ich es mit der ruhigeren Version von Roger Federer versuchen würde.»

      Viele sehen als Auslöser für seine Wandlung zum «Mister Cool» den Tod seines Ex-Coaches Peter Carter am 1. August 2002 (siehe Kapitel 6). Er selbst hat dieses tragische Ereignis, eine Woche vor seinem 21. Geburtstag, indes nie explizit als Wendepunkt bezeichnet. Der Prozess setzt schon viel früher ein. Eine solche Wandlung im Kopf passiert nicht über Nacht, Federer muss seine neue Identität auf dem Platz zuerst finden. Eine Zeitlang ist er sogar zu ruhig. «Die meisten Großen haben viel Temperament», sagt Heinz Günthardt, der Schweizer Tennispionier und Erfolgscoach von Steffi Graf. «Diese Energie ist wichtig. Sie treibt einen vorwärts. Aber man muss lernen, wie man mit diesem inneren Feuer umgeht. Und dass in Federer ein Feuer lodert, ist keine Frage. Sonst wäre seine so dauerhafte Karriere nie möglich gewesen. Er verstand es, diese Flamme stets am Brennen zu halten.» Die Frage ist also, wie man seine Energie rauslässt, ohne dass man sich dabei schadet.

      Stan Wawrinka, der andere Schweizer Grand-Slam-Champion, spielt beispielsweise besser, wenn er seiner Wut Luft verschafft, einen Schläger zertrümmert und ihn über seinem Knie zerbricht. (Achtung: Bitte nicht nachmachen! Auch in dieser Disziplin ist Wawrinka ein Ausnahmekönner!) Jimmy Connors begann mit den Zuschauern zu reden, wenn er sich unwohl fühlte, und schöpfte daraus wieder Inspiration. Rebell John McEnroe musste sich ärgern, vorzugsweise über den Schiedsrichter oder die Linienrichter, um sich mit Wut im Bauch in einen Spielrausch hineinzusteigern. Beim jungen Federer ist der Ärger aber fast immer kontraproduktiv, weil er sich nicht gegen andere richtet, sondern gegen sich selber. Und wer mit sich zu hadern beginnt, spielt danach nicht besser, sondern schlechter.

      «Ich war ein emotionaler Junge», blickt er Anfang 2018 bei der Auslosungszeremonie zu den Australian Open zurück. «Ich weinte nach verlorenen Matches, schleuderte Rackets, kommentierte jeden misslungenen Schlag. Und fluchte, wie schlecht ich sei. Als ich auf die Profitour kam, spürte ich den Druck noch mehr, wollte ich es besonders gut machen. Das fraß mich auf. Irgendwann dachte ich: So kann meine Karriere nicht weitergehen! Sonst bin ich mit 25 ein nervliches Wrack. Ich will es doch genießen! Zum Glück konnte ich das verändern. Ich bin happy, dass ich diesen Prozess durchgemacht habe. Ich war ein bisschen verrückt, aber auf eine gute Weise.»

      Je erfolgreicher Federer wird, desto ruhiger und beherrschter tritt er auf dem Platz auf. Oder umgekehrt. Die Meisterprüfung absolviert er in Wimbledon 2003 auf dem Weg zum ersten Grand-Slam-Erfolg, als er zum Titel stürmt, als sei es das Normalste der Welt. Seine Wandlung gehört zu den bemerkenswertesten im Tennis: vom Hitzkopf, für den sich die Eltern schämten, zum perfekten Botschafter für diesen Sport. Die mahnenden Worte von Mutter Lynette haben mit Verzögerung also doch ihre Wirkung entfaltet. Und wie sehr sie recht hatte, zeigt sich, als ihr Sohn seine Gegner nicht mehr in sein Innerstes blicken lässt. Er setzt ein Pokerface auf, verrät höchstens nach einem gewonnenen Punkt den Anflug einer Gefühlsregung. Das ist frustrierend für seine Kontrahenten, die sich nichts sehnlicher wünschen würden, als an seinem Gesicht oder seinen Gesten ablesen zu können, was in ihm vorgeht. Und dass es ihnen gelingt, ihn zu ärgern.

      Doch Federer bleibt cool, strahlt stets eine stille Zuversicht aus. Wie ein erfahrener Pilot navigiert er in seinen Matches ruhig durch größte Turbulenzen. Und weil er wie ein guter Flugkapitän einen klaren Kopf behält, trifft er auch in kritischen Momenten fast immer die richtigen Entscheidungen. Das ist in einem rasanten Sport wie Tennis, in dem man sich auf seine Instinkte verlassen muss und nur ein paar Bälle über Sieg oder Niederlage entscheiden, oft der Unterschied. Es wird zu einem Merkmal Federers, dass er, je wichtiger der Punkt, desto besser spielt. Auf das Ass durch die Mitte bei Breakball für den Gegner kann man sich bei ihm in seinen erfolgreichsten Zeiten verlassen. Und so muten Siege in knappen Partien, die nur durch ein paar Punkte entschieden werden, bei ihm jahrelang wie selbstverständlich an. «Roger schlägt sich nicht selber», sagt der australische Tennis-Analyst Craig O’Shannessy. «Viele regen sich auf und verlieren die Übersicht, resignieren oder bekommen Panik und forcieren dann zu sehr. Roger nicht. Und allein dadurch gewinnt er schon viele Matches.»

      Als Teenager ein Hitzkopf, entdeckt er also sein Zen, obschon er auf spezielle Entspannungsmethoden verzichtet. Er macht kein Yoga oder Tai-Chi, er meditiert nicht, geht auch nicht zum Shiatsu-Therapeuten. Trotzdem kann er als gutes Beispiel dienen, wie man achtsam lebt, wie man den Moment annimmt und sich von nichts ablenken lässt. Etwas, das wir in dieser hektischen Welt, die sich immer schneller dreht, fast alle anstreben. Ein schönes Beispiel, wie gut es Federer gelingt, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, gibt er im ATP-Finale 2003, das erstmals in Houston über die Bühne geht: Selfmade-Millionär James McIngvale, genannt «Mattress Mack», reich geworden durch seine Möbelhäuser, hat das Turnier vor seine Haustüre geholt. Doch die Bedingungen im «Westside Tennis Club» sind alles andere als ideal. Federer erdreistet sich zu kritisieren, dass die Plätze uneben seien und die Trainingsbedingungen ungenügend. Einmal muss er sogar auf einem Platz ohne Netz trainieren. Als McIngvale, der nicht gewohnt ist, dass ihm jemand entgegentritt, von der Kritik des Schweizers erfährt, schäumt er vor Wut. Er stürmt sofort in die Garderobe und staucht diesen zusammen, als der sich gerade auf sein Spiel gegen Andre Agassi vorbereitet. Kurz irritiert, sammelt sich Federer schnell, ja er nimmt die Standpauke sogar als zusätzlichen Ansporn. Er schlägt Agassi, den Patriot McIngvale so gerne siegen gesehen hätte, gleich zweimal: zuerst in den Gruppenspielen, dann im Finale. Und

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