TEXT + KRITIK 227 - Lukas Bärfuss. Группа авторов
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So hält er auch die Szenen seiner Stücke knapp, sie gleichen Tableaus, die unaufgeregt, sachlich, einen Konflikt zur Betrachtung freigeben. Oberflächlich haben Bärfuss’ Texte tatsächlich einen undramatischen Duktus. Doch in den Zwischenräumen brodelt es. Die Problematik, die sich in ihnen sukzessive auseinanderfaltet, zielt auf die Kernfragen der Moderne: Wie lieben, wie sterben, wie glauben wir, wie erinnern wir, wonach richten wir uns in unserer säkularisierten Gesellschaft, deren höchster Glaubensartikel der freie Wille ist, die persönliche Freiheit? Bärfuss begegnet diesen Fragen dialektisch, mit einem Denken, das gerade das Aufdecken von Ambivalenzen und Widersprüchen zum leitenden Motiv hat. Die Sachlichkeit im Duktus löst interessanterweise Aggressionen aus. Oftmals fühlt sich das Publikum provoziert, weil es gewahr wird, dass uns die Ideen, die wir uns über uns als Gesellschaft gemacht haben, am Ende nichts nützen werden.
Tatsächlich zielen Bärfuss’ Stücke auf Erkenntnisgewinn. Sie gleichen Laborversuchen. Er steckt sich jeweils ein Untersuchungsfeld in Raum und Zeit ab, so groß beziehungsweise so klein, dass es die Beobachtung zulässt. Er nimmt das Einzelne, Konkrete und studiert seine Voraussetzungen. Er lässt sich nicht täuschen von den unausgesprochenen Übereinkünften, die das geheime Regelwerk unseres Zusammenlebens ausmachen. Gerade sie sind es, die er untersucht – immer auch, um herauszufinden, wo er selbst sich befindet. Sein Blick ist dabei durchaus ein liebender, ein faszinierter. Er staunt darüber, wie unsere Gesellschaft funktioniert, mehr noch: er staunt darüber, dass dieses überaus komplexe Gefüge überhaupt funktioniert. Dieses Staunen verdankt sich dem Blick für die Gefährdung. In ihr entdeckt er enormes dramatisches Potenzial. Und darum baut dieser Dramatiker die Ausgangssituation seiner Stücke auch sehr präzise. Er fängt den Moment ein, in dem das Gleichgewicht kurz davor ist aus dem Lot zu fallen. »Mit den ersten Repliken sollte das Stück determiniert sein«, ist er überzeugt. »Der Stein ist geworfen und ich muss nur noch schauen wie er fällt.«
Im Zentrum vieler seiner Stücke stehen Figuren, die noch nicht in der Welt angekommen sind. Ist man ihnen einmal begegnet, verlassen sie einen nicht mehr. Und zwar nicht, weil sie einem so nahe gekommen wären, sondern weil man sich in ihrer Gegenwart fremd geworden ist. Die eigene Fremdheit in der Welt wird bewusst, die Fragilität, die dem sozialen Zusammenhang innewohnt.
Da ist zum Beispiel Dora aus »Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« – sie soll hier beispielhaft für andere stehen. Dora ist jenes Mädchen, das ein Haarbreit nur neben unserer Welt liegt. Sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Ihre Mutter möchte ihr zukünftig ohne Sedierung durch Medikamente begegnen. Damit fängt das Stück an. Was folgt, ist der schwierige Prozess einer Menschwerdung. Da Dora nicht in den Rastern der normalen Kommunikation funktioniert, Situationen nicht antizipieren kann, entwickelt sie ein System sprengendes Potenzial, das selbst die liberalste Gesinnung überfordert. In der Folge erlebt sie, dass sie nicht frei über sich verfügen kann und man entdeckt, dass es einem selbst letztlich auch so ergeht, weil sich erst durch persönlichen Verzicht, durch Unterwerfung in einer Gesellschaft leben lässt. Sozialisation, das zeigt dieses Stück, lässt sich nicht lehren, nur lernen. Wir fühlen uns provoziert, weil der Diskurs, den wir zu führen gewohnt sind, in den konkreten dargestellten Situationen versagt. Unser Selbstbild kollidiert mit unserem Handeln. Und anders als unser liberales Selbstverständnis behauptet, sehen wir auch, dass wir nicht in der Lage sind, Widersprüche auf lange Sicht zu ertragen. Wir sehen uns stattdessen mit der Frage konfrontiert, was schließlich passiert, wenn die Geschichte, die wir uns von uns erzählen, nicht passt, wenn wir gewahr werden, dass die fremdeste Geschichte von allen diejenige ist, von der wir glauben, es ist die eigene. Die Antwort ist, so die Beobachtung: Gewalt. Gewalt, die Anpassungsprozesse erzwingt.
Lukas Bärfuss zeigt in seinen Stücken keine Fälle – das ist manches Mal ein Missverständnis –, sondern protokolliert, welches Gesicht sich ein Problem in der öffentlichen Diskussion gibt. Und er protokolliert das Dilemma, in das sich unsere Gesellschaft hineinmanövriert mit ihrem unaufhaltsamen Bestreben, für alles eine Lösung zu finden. Darin steckt die befreiende Komik seiner Texte. Das Lachen ist ihm wichtig. Als revolutionäre Kraft und als erkennende.
Da Dichtung – Schreiben und Sprechen überhaupt – nicht denkbar ist ohne ihre Prägung durch das konkrete Subjekt in seinem Gezeichnetsein durch die ihm eigene Erfahrung, erlauben Sie mir bitte einen kurzen Exkurs in seine Biografie: Lukas Bärfuss ist 1971 in Thun, einer kleinen Garnisonsstadt in der Schweiz, geboren. Die Familienverhältnisse waren schwierige, die Schulzeit ungeliebt und kurz, er lebte zuweilen auf der Straße, lebte vom Mundraub. Tätigkeiten als Gabelstaplerfahrer, Eisenleger, Gärtner und Lohnarbeiter eines Tabakbauern stehen in seinem Lebenslauf. Aber es ist nicht geraten, diese Zeit zu stilisieren. Die Arbeitsbereiche für einen Ungelernten waren der Not geschuldet. Schließlich – ein Märchen: Ein Mitarbeiter einer Entrümpelungsfirma überließ dem Obdachlosen das Lexikon eines Verstorbenen, dessen Haushalt gerade aufgelöst wurde.
Lukas Bärfuss’ Bildungshunger erwachte, systematisch arbeitete er dieses Lexikon durch, von A bis Z, fand zu den Büchern, fand zur Literatur als Gegenort, als Ort des Möglichen, des Nicht-Tatsächlichen, von dem aus das Tatsächliche in den Blick genommen werden kann, als »Rastplatz der Reflexion«, wie einmal der Sozialphilosoph Oskar Negt den gesellschaftlichen Wert der Literatur, des Theaters, der Kunst überhaupt beschrieb. Bärfuss las und las, suchte die klassischen Grundtexte unserer Zivilisation auf und entwickelte das untrügliche Gefühl, dass diese Lektüren mit seinem eigenen Leben zu tun haben. Er begann die Zeit zu vermessen zwischen dem Damals und Heute und untersuchte, was geblieben ist und was sich verändert hat. Er absolvierte eine Buchhändlerlehre und beschloss Schriftsteller zu werden, und er ist, wenn man ihm glauben darf, noch heute überrascht, dass diese kühne Behauptung gesellschaftliche Akzeptanz erfahren hat.
Und genau darum geht es Lukas Bärfuss fortan auch in seinem Schreiben: um gesellschaftliche Zuschreibungen, Verabredungen, Akzeptanz und natürlich – die versteckte Gewalt, die davon ausgeht und Fluchtversuche provoziert, die besonders in Bärfuss’ Prosa Thema sind. Seine drei Romane sind so stark, so konzentriert, so intelligent entwickelt, dass ich an dieser Stelle darauf verzichten muss, sie in der Kürze der mir gegebenen Redezeit anzureißen. Ich kann sie nur jedem anempfehlen und ich hoffe, in dieser Laudatio eine Spur für ihre Lektüre zu legen, denn auch sie handeln von jenen Verhaltensparadoxien.
Vielleicht verdankt sich die geschärfte Beobachtungsgabe für die blinden Flecken in unserem Selbstverständnis dem Parzival’schen Blick – eines, der verspätet in die Gesellschaft integriert wird, der die Sozialisation erst im jungen Erwachsenenalter nachholt und daher diesem Gemeinwesen gegenüber, bei dem er um Aufnahme ersuchte, die Distanz behält. In »Parzival«, einem dieser Grundtexte, sieht Bärfuss den Urkonflikt des Schriftstellers verhandelt, der sich einerseits danach sehnt, Teil jener Gesellschaft zu sein, die er beschreiben möchte, der sich wünscht, mitten in ihr zu stehen, von allem berührt zu werden, die größtmögliche Zeitgenossenschaft und Durchlässigkeit zu haben – der aber andererseits für und durch seine Arbeit als Dichter eine Distanz aufbaut. Dichtung, so Bärfuss, sei nur möglich in diesem Widerspruch.
Vielleicht ist es diesem verspäteten Einstieg in die Bildung auch zu verdanken, dass wir es bei diesem Autor mit einem so eigenständigen, unkorrumpierbaren Denker zu tun haben, der sich die Zeit nimmt, die es braucht, alles selber zu durchschreiten, sich selber zu erarbeiten, schreibend. »Was die Welt sagt und was in den Büchern steht, das kann nicht maßgebend für mich sein. Ich muss selber nachdenken, um in den Dingen Klarheit zu erlangen.« Diese letzte Replik aus Ibsens »Nora« zitiert Bärfuss oft und meint sich