Wege, die man nicht vergißt. Dietmar Grieser
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Frau John-Borszki, Wahlwienerin aus Budapest, geleitet mich vom Pasqualati-Haus mit seiner »Beethoven-Bassena« (und dem holzschindelgedeckten Nebenhaus) zur Blutgasse, deren Bezuschussung im Zuge der Revitalisierung der 1960er Jahre an die Bereitschaft der Anrainer geknüpft war, den Durchgang zur Grünangergasse offenzuhalten. Der von außen nicht erkennbare Schleichweg vom Stoß im Himmel zur Wipplingerstraße führt nicht nur durchs Alte Rathaus, sondern auch – ausgenommen während der Gottesdienste – durch das Innere der von den Altkatholiken genutzten Salvatorkirche. Interessant auch der Durchgang von der Kleeblatt- zur Kurrentgasse, an deren Ende sich eine der über 50 Wiener Privatkapellen befindet. Nur zwei Mal im Jahr werden hier die Tore aufgetan: wenn der Hausbesitzer, der »Berufsverband christlicher Arbeitnehmerinnen im hauswirtschaftlichen Dienst«, für deren Schutzpatron die Messe lesen läßt. Wer vom Feuerwehrhaus Am Hof zum Tiefen Graben gelangen will, muß drei Stockwerke überwinden, und im exklusiv angehauchten Heiligenkreuzerhof werden am Heiligen Abend und zu Silvester bereits um 15 Uhr die Zugänge gesperrt. Und was ist eigentlich mit der Hofburg und ihren zahllosen Trakten, Türen, Höfen, Stiegen, Gängen? Kein Geringerer als Kaiser Franz Joseph hat darüber Klage geführt, er residiere im verkehrsreichsten Durchhaus von Wien …
Ein besonders ergiebiges Revier für Durchhaus-Fans ist das Viertel zwischen Stephansplatz und Bäckerstraße. Kuriositäten wie Wiens berühmtester Schnitzelwirt, der seine Gäste zur Verrichtung der Notdurft, den großen Schlüssel in der Hand, an das außerhalb des Lokals befindliche Örtchen verweist, oder die Geschichte vom Durchhaus »Schmeckender Wurm«, die eine der schaurigsten Sagen des mittelalterlichen Wien wiederaufleben läßt, bieten den Touristen ebenso Gesprächsstoff wie die zum Teil abenteuerlichen Schicksale jener Kleinunternehmer, die im Lauf der Jahrhunderte in manchen der Passagen ihren Geschäften nachgingen. An einen von ihnen, heute kaum noch vorstellbar, erinnere ich mich aus meiner eigenen ersten Wiener Zeit. Es war das Ladenlokal einer Dame mit bodenlangem Talar und dichtem, bis zu den Knöcheln herabwallendem Haar, die in der Passage zwischen Stephansplatz und Wollzeile für eine von ihr erfundene Pomade warb, welche der Benützerin »185 Zentimeter langes Riesen-Loreley-Haar« verhieß. Das Bild dieser Anna Csillag (so ihr Name) prangte zu jener Zeit auch auf den Inseratenseiten aller gängigen Illustrierten, ähnlich dem heute gleichfalls vergessenen Darmol-Onkel, der, mit Schlafmütze und Kerzenleuchter dem ersehnten Ziel zustrebend, allen unter Hartleibigkeit Leidenden sein Guinness-Buch-reifes Produkt ans Herz oder besser an den Verdauungstrakt legte.
Daß Durchhäuser auch lichtscheues Gesindel anziehen, bezeugt die Wiener Kriminalstatistik: Immer wieder ereignet es sich, daß Diebesbanden in Monteurskleidung, die auf Jugendstil-»Souvenirs« aus sind, wertvolle Türglocken, Türschnallen und Lampen mitgehen lassen, ja mitunter ganze Stiegenhausfenster aushängen. 76 Taschendiebstähle registriert der Polizeiposten Brandstätte/Bauernmarkt im Tagesdurchschnitt.
Die Damen vom Verein »Wiener Spaziergänge« (Mindestteilnehmerzahl: drei) denken an alles: Sie achten darauf, daß es bei ihren Führungen nicht zu lautstark zugeht und strenge Hausverwaltungen daraufhin auf die Idee kommen könnten, ihre Passiererlaubnis zu sistieren; sie führen ihre Gäste – etwa am Beispiel der sogenannten Pawlatschen – in Bedeutung und Herkunft einschlägiger Wiener Spracheigenheiten ein; und sie leiten Beschwerden – wie etwa die über den Mangel an öffentlichen Toiletten – an die zuständige Behörde weiter. Da ist es nur selbstverständlich, daß sie für den Fall des Falles den aus dem außereuropäischen Raum Anreisenden jederzeit mit hiesigem Wechselgeld aushelfen können.
Bei so vollendetem Service konnte es nicht ausbleiben, daß das Lob der Wiener Durchhaus-Touren eines Tages auch ins Internet Eingang fand. Ein Tourist aus Duisburg, nach der Rückkehr in die Heimat seine Wien-Erlebnisse resümierend, erging sich auf seinem Blog in schwärmerischen Schilderungen all der Höfe und Stiegen, der sie begleitenden Werkstätten, Läden und Lokale – es erinnere ihn stark an jenes Glücksgefühl, das er als Kind empfunden habe, wenn ihm seine Eltern eine Wundertüte gekauft haben. Das Durchhaus – eine Wundertüte!
»Nieder mit der Trikolore!«
Die Fahnengasse
Sie ist eine der kürzesten Straßen Wiens – mit gerade mal zwei Hausnummern. Die Fahnengasse im I. Bezirk verbindet die lebhafte Herrengasse mit der stillen Wallnerstraße, südseitig vom 1933 errichteten Hochhaus, vis à vis von einer Hotelfront flankiert. Über keinem der Hauseingänge sind Fahnenstangen auszumachen; weder am Nationalfeiertag noch am 1. Mai weht hier auch nur das kleinste Fetzchen Rotweißrot.
Um zu klären, wie die Fahnengasse zu ihrem Namen gekommen ist, biegen wir linkerhand in die Wallnerstraße ein und nehmen die dortige Nummer 8 ins Visier. Wir stehen vor dem prachtvollen Palais Caprara-Geymüller, das in seiner ursprünglichen Gestalt 1698 von dem italienischen Architekten Domenico Egidio Rossi entworfen worden ist. Als Nutzer des Gebäudes nennen die Chroniken zunächst die Spanische Hofkanzlei, sodann das Fürstengeschlecht der Liechtenstein und schließlich einen Freiherrn von Wimmer, der den ansehnlichen Besitz im Jänner 1798 an den französischen Gesandten (und späteren Schwedenkönig) Jean Baptiste Bernadotte vermietet. Mit dem zu dieser Zeit 35jährigen Feldmarschall von Napoleons Gnaden setzt die abenteuerliche Geschichte der Fahnengasse ein.
Die über dem heutigen Portal des Palais Caprara-Geymüller angebrachte Tafel »Wien – eine Stadt stellt sich vor« verrät darüber nichts; auch ein Rundgang durch Haus und Innenhof, von der kopftuchumhüllten Empfangsdame freundlich geduldet, führt den Spurensucher nicht ans Ziel: Die Wiener Börse, die heute den Großteil der Räumlichkeiten innehat, wirbt mit Hochglanzbroschüren für ihre Dienste, der im Foyer installierte Monitor strahlt die neuesten Finanzdaten des Nachrichtensenders Bloomberg aus. Der der Straße zugewandte Balkon der Beletage, Hauptschauplatz des denkwürdigen Ereignisses vom 13. April 1798, ist in gutem Zustand, sogar ein wenig begrünt. Höchstens drei Personen Platz bietend, fällt der vorspringende, nicht überdachte Bauteil nicht weiter auf.
Österreich, seit sechs Jahren von Kaiser Franz II. regiert, steht im Dauerstreit mit dem revolutionären Frankreich, die blutige Hinrichtung von Maria Theresias Tochter Marie Antoinette auf dem Pariser Schafott ist unvergessen. Seit dem Friedensschluß von Campoformio, der den Österreichern Niederlande und Lombardei weggenommen und dafür Teile der aufgelösten Republik Venedig, darunter Istrien und Dalmatien, zugesprochen hat, ruhen zumindest die Waffengänge zwischen den beiden Erzfeinden. Weiterer Lichtblick: Die jahrelang unterbrochenen diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Österreich sollen wiederaufgenommen werden.
Für den Posten des Wiener Botschafters wählt Napoleon seinen engen Vertrauten Jean Baptiste Bernadotte aus. Der streitbare Mann, der alle anderen Angebote – als militärischer Befehlshaber die Teilnahme an einem Staatsstreich, ja sogar einen Ministerposten – ausgeschlagen hat, ist in diesem Fall seinem obersten Herrn zu Willen: Im Jänner 1798 trifft Bernadotte mit Gefolge in Wien ein. Die Frage ist nur, wo seine Exzellenz ihr Quartier aufschlagen wird: Österreich war bis vor kurzem Feindesland, wer will da einen Repräsentanten Frankreichs in seinem Haus haben? Der 35jährige landet schließlich im Palais Caprara-Geymüller in der Wallerstraße (der heutigen Wallnerstraße).
Die Wiener begegnen dem legendären Kriegshelden mit gemischten Gefühlen. Bewundern die einen seine imponierende Erscheinung und seine prachtvolle Uniform, so stoßen sich die anderen an seiner Kopfbedeckung: Die Straußenfeder, die Bernadottes Hut schmückt, ist in Blauweißrot gehalten, also in den verhaßten Farben der Trikolore. Was ansonsten an Nachrichten aus der Ambassade française an die Öffentlichkeit dringt, gibt zu keiner weiteren Verstimmung Anlaß: Napoleons Gesandter tauscht mit der Hofburg die üblichen diplomatischen Noten aus, lädt zu Diners ein, empfängt Künstler wie den Geigenvirtuosen Rodolphe Kreutzer, den Komponisten Johann Nepomuk Hummel und den 27jährigen Beethoven (dem er sogar, so heißt es, die Anregung zur »Eroica« gibt). Nur mit dem gemeinen Volk mag Bernadotte nichts zu tun haben, er fühlt sich in der Kaiserstadt nicht wohl, meldet schon